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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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Ortsschule. Die Kinder werden nicht blos während des Verweilens im
Schulhause von Angebern aus der Mitte ihrer Kameraden, sondern auch
außer dem Schullocale bis in die Wohnungen ihrer Eltern nach einem ver¬
derbten und verderbenden Spionirsystem überwacht, der häuslichen Zucht
entrückt und in den Fesseln pedantischer Ablichtung unaufhörlich festgehalten.
In der Schule wird der Unterricht von einer halben Stunde zur andern
dadurch unterbrochen, daß ein Kind mit lauter Stimme ein Stoßgebetlein
hersagt, worauf einige Minuten sämmtliche Schüler in stiller Betrachtung
verharren müssen. Nach Verlauf jeder Stunde des Unterrichts betet ein
Schüler den Rosenkranz und die lauretanische Litanei knieend. Ueberdies ha¬
ben die Schulbrüder noch andere Gebete und Uebungen der Frömmigkeit
mitgebracht. Daß dadurch die Unterweisung der Jugend wesentlich leide,
wird vom Schulbezirksaufseher nicht beachtet, und einem Lehrer, der darüber
Vorstellung machte, erwiederte der Dechant: "nicht der Unterricht, sondern
Religiosität und Frömmigkeit sei in der Schule die Hauptsache." Diese er¬
drückt aber alle Anregung und Weckung des Verstandes und wird so anstatt
Hauptsache vielmehr Allciusnchc. Wir glauben, ein solches Verfahren der
vom Staate in bester Absicht zur Schulleitung berufenen Geistlichkeit führe
von jenem Ziele weit ab, das Se. Majestät nach der politischen Verfassung der
deutschen Volksschulen in landesväterlicher Vorsorge festgesetzt hat. Auf dem
beschriebenen Wege bildet man nicht verständige, fromme Menschen, sondern
dressirt willen- und verstandlose Bet- und Arbeitmaschinen, entstellt das
gottähnliche Bild der Menschheit und verzerrt es zur Fratze, deren Vorbild
in China und Tibet von den Priestern des Buddha und Dalai-Lama er¬
zeugt worden. Der schlichte Bürger und Bauer erkennt das Verkehrte sol¬
cher Schulbildung und murrt laut darüber. Bald werdet ihr ans diese
Weise die lobenswerthe Bereitwilligkeit unserer Eltern, ihre Kinder in die
Schule zu schicken, in Widerstreben umgewandelt sehen, und wollt ihr, ver¬
blendete geistliche Schulmänner, dann den weltlichen Arm anrufen? Wird
die Obrigkeit mit Zwang den auf so unverantwortliche Weise zerstörten guten
Willen wieder erwecken können? Möchte doch die Regierung, ehe es dahin
kommt, die Ueberzeugung gewinnen, daß die öffentlichen Interessen häufig
in der in neuester Zeit eingeschlagenen Bahn, Religion und Sittlichkeit durch
allzuliberale Gunst für Geistlichkeit und Mönchsorden zu fördern, großen
Schaden'nehmen, daß dieKirche wenigstens hier zu Lande eine bedenkliche Haltung
gegen die weltliche Macht beobachte und nicht mit der Staatsverwaltung wirke,
sondern ihre besondern Zwecke verfolge. scheut man sich ja nicht eine
den Behörden Sr. Majestät unbekannte Lehrgenossenschaft in den Besitz der


Ortsschule. Die Kinder werden nicht blos während des Verweilens im
Schulhause von Angebern aus der Mitte ihrer Kameraden, sondern auch
außer dem Schullocale bis in die Wohnungen ihrer Eltern nach einem ver¬
derbten und verderbenden Spionirsystem überwacht, der häuslichen Zucht
entrückt und in den Fesseln pedantischer Ablichtung unaufhörlich festgehalten.
In der Schule wird der Unterricht von einer halben Stunde zur andern
dadurch unterbrochen, daß ein Kind mit lauter Stimme ein Stoßgebetlein
hersagt, worauf einige Minuten sämmtliche Schüler in stiller Betrachtung
verharren müssen. Nach Verlauf jeder Stunde des Unterrichts betet ein
Schüler den Rosenkranz und die lauretanische Litanei knieend. Ueberdies ha¬
ben die Schulbrüder noch andere Gebete und Uebungen der Frömmigkeit
mitgebracht. Daß dadurch die Unterweisung der Jugend wesentlich leide,
wird vom Schulbezirksaufseher nicht beachtet, und einem Lehrer, der darüber
Vorstellung machte, erwiederte der Dechant: „nicht der Unterricht, sondern
Religiosität und Frömmigkeit sei in der Schule die Hauptsache." Diese er¬
drückt aber alle Anregung und Weckung des Verstandes und wird so anstatt
Hauptsache vielmehr Allciusnchc. Wir glauben, ein solches Verfahren der
vom Staate in bester Absicht zur Schulleitung berufenen Geistlichkeit führe
von jenem Ziele weit ab, das Se. Majestät nach der politischen Verfassung der
deutschen Volksschulen in landesväterlicher Vorsorge festgesetzt hat. Auf dem
beschriebenen Wege bildet man nicht verständige, fromme Menschen, sondern
dressirt willen- und verstandlose Bet- und Arbeitmaschinen, entstellt das
gottähnliche Bild der Menschheit und verzerrt es zur Fratze, deren Vorbild
in China und Tibet von den Priestern des Buddha und Dalai-Lama er¬
zeugt worden. Der schlichte Bürger und Bauer erkennt das Verkehrte sol¬
cher Schulbildung und murrt laut darüber. Bald werdet ihr ans diese
Weise die lobenswerthe Bereitwilligkeit unserer Eltern, ihre Kinder in die
Schule zu schicken, in Widerstreben umgewandelt sehen, und wollt ihr, ver¬
blendete geistliche Schulmänner, dann den weltlichen Arm anrufen? Wird
die Obrigkeit mit Zwang den auf so unverantwortliche Weise zerstörten guten
Willen wieder erwecken können? Möchte doch die Regierung, ehe es dahin
kommt, die Ueberzeugung gewinnen, daß die öffentlichen Interessen häufig
in der in neuester Zeit eingeschlagenen Bahn, Religion und Sittlichkeit durch
allzuliberale Gunst für Geistlichkeit und Mönchsorden zu fördern, großen
Schaden'nehmen, daß dieKirche wenigstens hier zu Lande eine bedenkliche Haltung
gegen die weltliche Macht beobachte und nicht mit der Staatsverwaltung wirke,
sondern ihre besondern Zwecke verfolge. scheut man sich ja nicht eine
den Behörden Sr. Majestät unbekannte Lehrgenossenschaft in den Besitz der


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[0393] Ortsschule. Die Kinder werden nicht blos während des Verweilens im Schulhause von Angebern aus der Mitte ihrer Kameraden, sondern auch außer dem Schullocale bis in die Wohnungen ihrer Eltern nach einem ver¬ derbten und verderbenden Spionirsystem überwacht, der häuslichen Zucht entrückt und in den Fesseln pedantischer Ablichtung unaufhörlich festgehalten. In der Schule wird der Unterricht von einer halben Stunde zur andern dadurch unterbrochen, daß ein Kind mit lauter Stimme ein Stoßgebetlein hersagt, worauf einige Minuten sämmtliche Schüler in stiller Betrachtung verharren müssen. Nach Verlauf jeder Stunde des Unterrichts betet ein Schüler den Rosenkranz und die lauretanische Litanei knieend. Ueberdies ha¬ ben die Schulbrüder noch andere Gebete und Uebungen der Frömmigkeit mitgebracht. Daß dadurch die Unterweisung der Jugend wesentlich leide, wird vom Schulbezirksaufseher nicht beachtet, und einem Lehrer, der darüber Vorstellung machte, erwiederte der Dechant: „nicht der Unterricht, sondern Religiosität und Frömmigkeit sei in der Schule die Hauptsache." Diese er¬ drückt aber alle Anregung und Weckung des Verstandes und wird so anstatt Hauptsache vielmehr Allciusnchc. Wir glauben, ein solches Verfahren der vom Staate in bester Absicht zur Schulleitung berufenen Geistlichkeit führe von jenem Ziele weit ab, das Se. Majestät nach der politischen Verfassung der deutschen Volksschulen in landesväterlicher Vorsorge festgesetzt hat. Auf dem beschriebenen Wege bildet man nicht verständige, fromme Menschen, sondern dressirt willen- und verstandlose Bet- und Arbeitmaschinen, entstellt das gottähnliche Bild der Menschheit und verzerrt es zur Fratze, deren Vorbild in China und Tibet von den Priestern des Buddha und Dalai-Lama er¬ zeugt worden. Der schlichte Bürger und Bauer erkennt das Verkehrte sol¬ cher Schulbildung und murrt laut darüber. Bald werdet ihr ans diese Weise die lobenswerthe Bereitwilligkeit unserer Eltern, ihre Kinder in die Schule zu schicken, in Widerstreben umgewandelt sehen, und wollt ihr, ver¬ blendete geistliche Schulmänner, dann den weltlichen Arm anrufen? Wird die Obrigkeit mit Zwang den auf so unverantwortliche Weise zerstörten guten Willen wieder erwecken können? Möchte doch die Regierung, ehe es dahin kommt, die Ueberzeugung gewinnen, daß die öffentlichen Interessen häufig in der in neuester Zeit eingeschlagenen Bahn, Religion und Sittlichkeit durch allzuliberale Gunst für Geistlichkeit und Mönchsorden zu fördern, großen Schaden'nehmen, daß dieKirche wenigstens hier zu Lande eine bedenkliche Haltung gegen die weltliche Macht beobachte und nicht mit der Staatsverwaltung wirke, sondern ihre besondern Zwecke verfolge. scheut man sich ja nicht eine den Behörden Sr. Majestät unbekannte Lehrgenossenschaft in den Besitz der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/393>, abgerufen am 22.07.2024.