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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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rage und Europa mit Staunen und Bewunderung erfülle." Herr Disraeli
zeigt wenigstens durch diese Behauptung, mit welcher enthusiastischen Vor¬
liebe er seinen jüdischen Voreltern zugethan sei, wenn er gleich als Christ
einen Sitz im Parlamente gefunden und eine reiche christliche Wittwe ge-
ehlicht hat. Sicher ist es, daß er als Jude kaum wärmer für die Juden
hätte sprechen können, als wie er es als Christ gethan hat. Das ist doch
christlich! -- Uebrigens haben die Juden in letzter Zeit eine viel bessere
Stellung in London erhalten und dürfen mit Recht auf größere Vorrechte
hoffen, seit England einen Minister erhalten hat, den sie gewissermaßen dazu
gemacht haben. Lord John Russel wäre nie von der Stadt London gewählt
worden, hätten die Juden es sich nicht 20,000 Pfund kosten lassen. Mit bloßen
Titeln bezahlt sich ein solcher Dienst nicht. -- Es sind übrigens im Ganzen
nur 60,000 Juden in ganz England. Diese stehen in vielem Bezug bedeu¬
tend hinter ihren deutschen Brüdern zurück, weil es ihnen an Gelegenheit
fehlte, eine gute Erziehung oder nur irgend eine Erziehung zu erhalten.
Für das Erstere ist durch die Gründung der Universität London gesorgt,
die keine Religion ausschließt; und das Letztere hoffen sie jetzt zu erlangen,
wo das Thema einer National-Erziehung nach liberalen Grundsätzen behan¬
delt wird. Es wäre wirklich zu wünschen, daß man im freien England ein¬
mal in diesem Punkte ein wenig großherzig dächte. So viele Klassen der
Gesellschaft sind auf die jetzige Art, wo die "hohe Kirche" den Glauben
an die Stirne jedes Schülers geschrieben haben will, jedes Mittels der
Erziehung beraubt oder auf Barmherzigkeit angewiesen. Da findet es sich
denn, daß gar zu viele keinen mitleidigen Fürsprecher finden und verwahrlost
aufwachsen.

Die Juden in Se. Glich -- dem berüchtigsten Stadttheil London's --
haben gewiß außer Sonne, Mond und grünen Bäumen sehr oft kein ABC
gesehen. Die kleinen Savoyarden sind nicht besser daran. Manzini, dieser
enthusiastische Patriot, und zweiter Cato, wenn auch in anderem Sinne, lebt nnr
für die Erziehung dieser armen Knaben, die jung nach England gesandt wer¬
den, wo sie, wie ihre Eltern glauben, das Gold auf der Straße finden, und
die dann jämmerlich betteln gehen müssen, Kälte leiden, Hunger und Elend,
und auch nicht einmal in die Heimath zurückkehren können, weil ihnen das
Geld zur Ueberfahrt fehlt. In jeder Straße sieht man diese Knaben, ent-
weder mit einer Orgel, oder mit einem Affen, Meerschweinchen und derglei¬
chen Dinge, die sie miethen und für die sie dem Eigenthümer täglich eine
gewisse Summe entrichten müssen. Ohne Lager, ohne Obdach, und manchen
Tag ohne ein Stück Brod, sind sie immer vergnügt, und aus ihren Schmutze-


rage und Europa mit Staunen und Bewunderung erfülle." Herr Disraeli
zeigt wenigstens durch diese Behauptung, mit welcher enthusiastischen Vor¬
liebe er seinen jüdischen Voreltern zugethan sei, wenn er gleich als Christ
einen Sitz im Parlamente gefunden und eine reiche christliche Wittwe ge-
ehlicht hat. Sicher ist es, daß er als Jude kaum wärmer für die Juden
hätte sprechen können, als wie er es als Christ gethan hat. Das ist doch
christlich! — Uebrigens haben die Juden in letzter Zeit eine viel bessere
Stellung in London erhalten und dürfen mit Recht auf größere Vorrechte
hoffen, seit England einen Minister erhalten hat, den sie gewissermaßen dazu
gemacht haben. Lord John Russel wäre nie von der Stadt London gewählt
worden, hätten die Juden es sich nicht 20,000 Pfund kosten lassen. Mit bloßen
Titeln bezahlt sich ein solcher Dienst nicht. — Es sind übrigens im Ganzen
nur 60,000 Juden in ganz England. Diese stehen in vielem Bezug bedeu¬
tend hinter ihren deutschen Brüdern zurück, weil es ihnen an Gelegenheit
fehlte, eine gute Erziehung oder nur irgend eine Erziehung zu erhalten.
Für das Erstere ist durch die Gründung der Universität London gesorgt,
die keine Religion ausschließt; und das Letztere hoffen sie jetzt zu erlangen,
wo das Thema einer National-Erziehung nach liberalen Grundsätzen behan¬
delt wird. Es wäre wirklich zu wünschen, daß man im freien England ein¬
mal in diesem Punkte ein wenig großherzig dächte. So viele Klassen der
Gesellschaft sind auf die jetzige Art, wo die „hohe Kirche" den Glauben
an die Stirne jedes Schülers geschrieben haben will, jedes Mittels der
Erziehung beraubt oder auf Barmherzigkeit angewiesen. Da findet es sich
denn, daß gar zu viele keinen mitleidigen Fürsprecher finden und verwahrlost
aufwachsen.

Die Juden in Se. Glich — dem berüchtigsten Stadttheil London's —
haben gewiß außer Sonne, Mond und grünen Bäumen sehr oft kein ABC
gesehen. Die kleinen Savoyarden sind nicht besser daran. Manzini, dieser
enthusiastische Patriot, und zweiter Cato, wenn auch in anderem Sinne, lebt nnr
für die Erziehung dieser armen Knaben, die jung nach England gesandt wer¬
den, wo sie, wie ihre Eltern glauben, das Gold auf der Straße finden, und
die dann jämmerlich betteln gehen müssen, Kälte leiden, Hunger und Elend,
und auch nicht einmal in die Heimath zurückkehren können, weil ihnen das
Geld zur Ueberfahrt fehlt. In jeder Straße sieht man diese Knaben, ent-
weder mit einer Orgel, oder mit einem Affen, Meerschweinchen und derglei¬
chen Dinge, die sie miethen und für die sie dem Eigenthümer täglich eine
gewisse Summe entrichten müssen. Ohne Lager, ohne Obdach, und manchen
Tag ohne ein Stück Brod, sind sie immer vergnügt, und aus ihren Schmutze-


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[0376] rage und Europa mit Staunen und Bewunderung erfülle." Herr Disraeli zeigt wenigstens durch diese Behauptung, mit welcher enthusiastischen Vor¬ liebe er seinen jüdischen Voreltern zugethan sei, wenn er gleich als Christ einen Sitz im Parlamente gefunden und eine reiche christliche Wittwe ge- ehlicht hat. Sicher ist es, daß er als Jude kaum wärmer für die Juden hätte sprechen können, als wie er es als Christ gethan hat. Das ist doch christlich! — Uebrigens haben die Juden in letzter Zeit eine viel bessere Stellung in London erhalten und dürfen mit Recht auf größere Vorrechte hoffen, seit England einen Minister erhalten hat, den sie gewissermaßen dazu gemacht haben. Lord John Russel wäre nie von der Stadt London gewählt worden, hätten die Juden es sich nicht 20,000 Pfund kosten lassen. Mit bloßen Titeln bezahlt sich ein solcher Dienst nicht. — Es sind übrigens im Ganzen nur 60,000 Juden in ganz England. Diese stehen in vielem Bezug bedeu¬ tend hinter ihren deutschen Brüdern zurück, weil es ihnen an Gelegenheit fehlte, eine gute Erziehung oder nur irgend eine Erziehung zu erhalten. Für das Erstere ist durch die Gründung der Universität London gesorgt, die keine Religion ausschließt; und das Letztere hoffen sie jetzt zu erlangen, wo das Thema einer National-Erziehung nach liberalen Grundsätzen behan¬ delt wird. Es wäre wirklich zu wünschen, daß man im freien England ein¬ mal in diesem Punkte ein wenig großherzig dächte. So viele Klassen der Gesellschaft sind auf die jetzige Art, wo die „hohe Kirche" den Glauben an die Stirne jedes Schülers geschrieben haben will, jedes Mittels der Erziehung beraubt oder auf Barmherzigkeit angewiesen. Da findet es sich denn, daß gar zu viele keinen mitleidigen Fürsprecher finden und verwahrlost aufwachsen. Die Juden in Se. Glich — dem berüchtigsten Stadttheil London's — haben gewiß außer Sonne, Mond und grünen Bäumen sehr oft kein ABC gesehen. Die kleinen Savoyarden sind nicht besser daran. Manzini, dieser enthusiastische Patriot, und zweiter Cato, wenn auch in anderem Sinne, lebt nnr für die Erziehung dieser armen Knaben, die jung nach England gesandt wer¬ den, wo sie, wie ihre Eltern glauben, das Gold auf der Straße finden, und die dann jämmerlich betteln gehen müssen, Kälte leiden, Hunger und Elend, und auch nicht einmal in die Heimath zurückkehren können, weil ihnen das Geld zur Ueberfahrt fehlt. In jeder Straße sieht man diese Knaben, ent- weder mit einer Orgel, oder mit einem Affen, Meerschweinchen und derglei¬ chen Dinge, die sie miethen und für die sie dem Eigenthümer täglich eine gewisse Summe entrichten müssen. Ohne Lager, ohne Obdach, und manchen Tag ohne ein Stück Brod, sind sie immer vergnügt, und aus ihren Schmutze-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/376>, abgerufen am 22.07.2024.