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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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sens untergehn. -- In dem Baron hat sich das Bewußtsein der allgemeinen
Heuchelei zum ironischen CmnSmuö cousvlidirt; er weiß seine Ehrlosigkeit
in dieser Welt ebenso im Recht, als den Schein, den dieses wüste, boden¬
lose Reich des Unglaubens umhüllt.

Im Jahr 18! l der Zeit, in welchem das nationale Bewußtsein an.
fing, sich zu regen -- erschienen zwei Werte von Arnim: "Halle und
Jerusalem" und: "Die schone Jsabelle von Aegypten, Kaiser
Karl's V. erste Jugendliebe." Es ist charakteristisch für diese Ro¬
mantiker -- Tieck, Werner, Hoffmann, Arnim, Brentano -- daß sie den
gewaltigen Flügelschlag des Geistes nicht fühlten, daß ihnen höchstens un¬
heimlich dabei wurde, und daß sie sich, um dieser beklemmenden Stimmung
zu entgehen, in allen Spuk der Mährchenwelt flüchteten, aus dem die Zeit
sich loszuwinden strebte.

Halle und Jerusalem behandelt die alte Geschichte von Cardenio
und Celinde, die schon Andreas Gryphius dramatisch dargestellt hat, und
die in neuerer Zeit auch Immermann den Stoff zu einem Trauerspiel hin¬
gegeben hat, in verwilderter dramatischer Form. Cardenio ist in Halle
Sprecher eines geheimen Ordens, dabei tüchtiger Zecher, ausgezeichneter
Paukant, keusch, wie alle Lieblingshelden unseres Dichters. Er macht die
Extravaganzen des Hallenser Studentenlebens mit aller Leidenschaft seines
energischen Charakters mit, vertieft sich auch lebhaft in die Mysterien einer
geheimen Gesellschaft, bis eine wahre Liebe, die dnrch einen bösen Zufall ge¬
hemmt wird, ihn über die Nichtigkeit seines bisherigen Treibens aufklärt;
er löst den Orden auf, geräth in Zweifel und Verwirrungen, fällt dann in
die Netze einer -- übrigens geistreichen und empfindseligen Buhlerin, wird
plötzlich von Reue und einer mystischen Sehnsucht nach dem heiligen Grabe
ergriffen, pilgert mit jener Schönen nach Jerusalem, wo sich endlich alle
Bekannte ans Halle zusammentreffen, und wird dort, erschöpft von einer
mühsamen Reise, unter den Füßen der frommen Christen, die nach Jerusa¬
lem pilgern, todtgetreten. Aber bei seinem Tode wird er von einem wun¬
derbaren Licht, das von dem Jesnknaben ausströmt, erleuchtet und geheiligt.
Eine Menge schändlicher Juden, anch britische Seehelden (es ist grade die
Zeit, wo der Capitain Sir Sidney Smith um Acre kämpft), Knchenweiber ze.
bringt in die Scene größere Abwechselung. Auch der ewige Jude, der sich
später als Cardcniv's Vater ausweist, .tritt auf; nnr bleibt man doch im
Unklaren, ob es wirklich der ewige Jude ist oder nickt, oder gar ein Ge¬
spenst. Gespenster, Hexen, Vampyre und der Teufel können natürlich nicht
fehlen. Das Ganze ist eines der merkwürdigsten Producte der Blasirtheit,


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sens untergehn. — In dem Baron hat sich das Bewußtsein der allgemeinen
Heuchelei zum ironischen CmnSmuö cousvlidirt; er weiß seine Ehrlosigkeit
in dieser Welt ebenso im Recht, als den Schein, den dieses wüste, boden¬
lose Reich des Unglaubens umhüllt.

Im Jahr 18! l der Zeit, in welchem das nationale Bewußtsein an.
fing, sich zu regen — erschienen zwei Werte von Arnim: „Halle und
Jerusalem" und: „Die schone Jsabelle von Aegypten, Kaiser
Karl's V. erste Jugendliebe." Es ist charakteristisch für diese Ro¬
mantiker — Tieck, Werner, Hoffmann, Arnim, Brentano — daß sie den
gewaltigen Flügelschlag des Geistes nicht fühlten, daß ihnen höchstens un¬
heimlich dabei wurde, und daß sie sich, um dieser beklemmenden Stimmung
zu entgehen, in allen Spuk der Mährchenwelt flüchteten, aus dem die Zeit
sich loszuwinden strebte.

Halle und Jerusalem behandelt die alte Geschichte von Cardenio
und Celinde, die schon Andreas Gryphius dramatisch dargestellt hat, und
die in neuerer Zeit auch Immermann den Stoff zu einem Trauerspiel hin¬
gegeben hat, in verwilderter dramatischer Form. Cardenio ist in Halle
Sprecher eines geheimen Ordens, dabei tüchtiger Zecher, ausgezeichneter
Paukant, keusch, wie alle Lieblingshelden unseres Dichters. Er macht die
Extravaganzen des Hallenser Studentenlebens mit aller Leidenschaft seines
energischen Charakters mit, vertieft sich auch lebhaft in die Mysterien einer
geheimen Gesellschaft, bis eine wahre Liebe, die dnrch einen bösen Zufall ge¬
hemmt wird, ihn über die Nichtigkeit seines bisherigen Treibens aufklärt;
er löst den Orden auf, geräth in Zweifel und Verwirrungen, fällt dann in
die Netze einer — übrigens geistreichen und empfindseligen Buhlerin, wird
plötzlich von Reue und einer mystischen Sehnsucht nach dem heiligen Grabe
ergriffen, pilgert mit jener Schönen nach Jerusalem, wo sich endlich alle
Bekannte ans Halle zusammentreffen, und wird dort, erschöpft von einer
mühsamen Reise, unter den Füßen der frommen Christen, die nach Jerusa¬
lem pilgern, todtgetreten. Aber bei seinem Tode wird er von einem wun¬
derbaren Licht, das von dem Jesnknaben ausströmt, erleuchtet und geheiligt.
Eine Menge schändlicher Juden, anch britische Seehelden (es ist grade die
Zeit, wo der Capitain Sir Sidney Smith um Acre kämpft), Knchenweiber ze.
bringt in die Scene größere Abwechselung. Auch der ewige Jude, der sich
später als Cardcniv's Vater ausweist, .tritt auf; nnr bleibt man doch im
Unklaren, ob es wirklich der ewige Jude ist oder nickt, oder gar ein Ge¬
spenst. Gespenster, Hexen, Vampyre und der Teufel können natürlich nicht
fehlen. Das Ganze ist eines der merkwürdigsten Producte der Blasirtheit,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/343>, abgerufen am 22.07.2024.