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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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Die bisher revolutionäre Richtung der Romantik wurde reaktionär.

Wie verschieden ist dem Zwecke nach jene Voltsliedersammlung von den
"Stimmen der Völker," durch welche Herder vor ungefähr einem Menschen-
alter diese Emanzipation des Natürlichen im Reich der Bildung angebahnt
hatte. Die Stimmen der Völker sollen nämlich zeigen, wie in der ursprüng¬
lichen wahren Poesie auch derjenigen Völker, die vou der Cultur am we¬
nigsten ergriffen sind, dennoch der Geist der Menschheit sich offenbart, wie
erst aus der Gesammtheit der mannigfaltigen Farben, in die das Licht der
Humanität gebrochen wird, die Totalität des Lichtes zur Anschauung kommt;
darum wird in Herder's Bearbeitungen schonend, aber doch nach einem be¬
stimmten Zweck, die Weise jeuer Naturvölker dein modernen Bewußtsein ange¬
nähert; indes "Knaben Wunderhorn" dagegen wird das Anomale, das
Unverständliche und Mystische herausgekehrt. Es liegt das allerdings zum
Theil in der verschiedenen äußerlichen Bestimmung dieser beiden Sammlun¬
gen, aber dann vergleiche man Percy mit Arnim, und man wird finden,
daß die Reaction gegen die moderne Bildung in diesem Wunderhorn der
Leitton ist. Es blieb im Uebrigen ein höchst verdienstvolles Unternehmen. Ein
reicher, zum Theil wahrhaft poetischer Liederschatz breitet sich ans, Alles bunt
durch einander; Naturanschauung, Liebe, Mährchen, Heldensagen, das All¬
tägliche neben dein Wunderbaren, aber alles heiter und sangbar. Mit lite¬
rarhistorischer Strenge verfuhren die Herausgeber eben so wenig als Herder;
auch sie schlugen den poetischen Gewinn viel höher an als den künstlerischen.
"Die eigentliche Geschichte," schreibt Arnim zehn Jahre später, "war mir da¬
mals unter der trübsinnigen Last, die auf Deutschland richte, ein Gegen¬
stand des Abscheues, ich suchte sie bei der Poesie zu vergessen, ich fand in
ihr ein Etwas, das sein Wesen nicht von der Jahreszahl borgte, sondern das
frei durch alle Zeiten hindurch lebte. Diesem Wesen, das mich in neuen
und alten Schriften gleich lebhast anregte, suchte ich in seinen sichtbarsten
Zeichen auch andern mitzutheilen, ich verschmähte es nicht, wo ich es in mir
selbst zu entdecken glaubte, und so wurden diese Lieder ein Aufnehmen des
Fremden in uns." Diesen Zustand bezeichnet Goethe, der sich damals für
die Sammlung lebhaft interessirte, nach seiner eignen Aufregung: "Ein Ge¬
fühl, das bei mir gewaltig überhand nahm, und sich nicht wundersam genug
äußern kounte, war die Empfindung der Vergangenheit und Gegenwart in
Eins, eine Anschauung, die etwas Gespenstermäßigcs in die Gegenwart
brachte. Sie wirkt im Gedicht immer wohlthätig, ob sie gleich im Augen¬
blick, wo sie sich unmittelbar am Leben und im Leben selbst ausdrückt, zu¬
weilen seltsam, unerklärlich, vielleicht unerfreulich scheinen müßte." -- Die


Die bisher revolutionäre Richtung der Romantik wurde reaktionär.

Wie verschieden ist dem Zwecke nach jene Voltsliedersammlung von den
„Stimmen der Völker," durch welche Herder vor ungefähr einem Menschen-
alter diese Emanzipation des Natürlichen im Reich der Bildung angebahnt
hatte. Die Stimmen der Völker sollen nämlich zeigen, wie in der ursprüng¬
lichen wahren Poesie auch derjenigen Völker, die vou der Cultur am we¬
nigsten ergriffen sind, dennoch der Geist der Menschheit sich offenbart, wie
erst aus der Gesammtheit der mannigfaltigen Farben, in die das Licht der
Humanität gebrochen wird, die Totalität des Lichtes zur Anschauung kommt;
darum wird in Herder's Bearbeitungen schonend, aber doch nach einem be¬
stimmten Zweck, die Weise jeuer Naturvölker dein modernen Bewußtsein ange¬
nähert; indes „Knaben Wunderhorn" dagegen wird das Anomale, das
Unverständliche und Mystische herausgekehrt. Es liegt das allerdings zum
Theil in der verschiedenen äußerlichen Bestimmung dieser beiden Sammlun¬
gen, aber dann vergleiche man Percy mit Arnim, und man wird finden,
daß die Reaction gegen die moderne Bildung in diesem Wunderhorn der
Leitton ist. Es blieb im Uebrigen ein höchst verdienstvolles Unternehmen. Ein
reicher, zum Theil wahrhaft poetischer Liederschatz breitet sich ans, Alles bunt
durch einander; Naturanschauung, Liebe, Mährchen, Heldensagen, das All¬
tägliche neben dein Wunderbaren, aber alles heiter und sangbar. Mit lite¬
rarhistorischer Strenge verfuhren die Herausgeber eben so wenig als Herder;
auch sie schlugen den poetischen Gewinn viel höher an als den künstlerischen.
„Die eigentliche Geschichte," schreibt Arnim zehn Jahre später, „war mir da¬
mals unter der trübsinnigen Last, die auf Deutschland richte, ein Gegen¬
stand des Abscheues, ich suchte sie bei der Poesie zu vergessen, ich fand in
ihr ein Etwas, das sein Wesen nicht von der Jahreszahl borgte, sondern das
frei durch alle Zeiten hindurch lebte. Diesem Wesen, das mich in neuen
und alten Schriften gleich lebhast anregte, suchte ich in seinen sichtbarsten
Zeichen auch andern mitzutheilen, ich verschmähte es nicht, wo ich es in mir
selbst zu entdecken glaubte, und so wurden diese Lieder ein Aufnehmen des
Fremden in uns." Diesen Zustand bezeichnet Goethe, der sich damals für
die Sammlung lebhaft interessirte, nach seiner eignen Aufregung: „Ein Ge¬
fühl, das bei mir gewaltig überhand nahm, und sich nicht wundersam genug
äußern kounte, war die Empfindung der Vergangenheit und Gegenwart in
Eins, eine Anschauung, die etwas Gespenstermäßigcs in die Gegenwart
brachte. Sie wirkt im Gedicht immer wohlthätig, ob sie gleich im Augen¬
blick, wo sie sich unmittelbar am Leben und im Leben selbst ausdrückt, zu¬
weilen seltsam, unerklärlich, vielleicht unerfreulich scheinen müßte." — Die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/337>, abgerufen am 22.07.2024.