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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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sich in sich selber zu sichern, sondern auch die Kraft zu neuen Angliederun-
gen, die Elasticität zu unberechenbarer Ausdehnung zu haben scheint. Wie
die amerikanische Union durch ihre freiheitliche Verfassung immer neue Land¬
schaften für die Cultur und die Freiheit zu erwerben weiß, so Napoleon
durch sein Föderativstem immer neue Staaten für seine Universalgewalt.
Nie hat es einen größern Feldherrn, einen umsichtigern Regenten gegeben;
keine Unmöglichkeit, die ihn hemmt -- das Nächste wie das Fernste, das
Geheimniß der Verhältnisse wie die leisesten Regungen der Seele durchschaut
er mit einem Blick, und Jedem weiß er seine Stellung zu geben. -- Und
doch, es ist ein Etwas in ihm, daß uns inmitten höchster Bewunderung
verletzt. Aller Ruhmesglanz, der ihn umgibt, überwindet dies unheimliche
Grauen nicht, das der Verstand eine Thorheit schilt und das Gemüth doch
nicht los wird. -- Er selbst sagt: "nie war ich Herr meiner Bewegungen;
den Ereignissen gegenüber fasse ich meine Entschlüsse." -- Umsonst suchen
wir in ihm tiefere, sittliche Motive, die ihn treiben, ihn bestimmen, man
möchte sagen, mit seinem Geiste versöhnen. Alles ist ihm nur Mittel, jedes
Erreichte treibt ihn nur weiter, aus jedem Siege wuchern ihm neue Ansprüche,
neue Nothwendigkeiten, und jede treibt ihn zu weiteren Consequenzen; es
es ist die Friedlosigteit einer Dialektik, die immer maßloser, mechanischer,
unwahrer wird, je weiter sie der Widerspruch treibt; sie hat keine Ruhe,
bis sie Alles in ihre Oede verschlungen, alles Leben geformelt, alle Farben -
lust des Daseins mit ihrem Grau in Grau übertüncht hat. Er ist der Heros
des Verstandes, deö Verstandes in seiner grandiosesten, aber herzlosesten
Absolutheit.

Die Napoleonischen Scheiuverfassnngcn logen den Völkern eine staatliche
Mitbetheilignng, deren Wahrheit Frankreich selbst um des Herrschers willen
geopfert halte; sie steigerten die Willkürgewalt der Regierenden; die Ohn¬
macht der Regierten, um der Abhängigkeit beider gewiß zu sei". Napo-
leon fehlte seines Ziels; es standen Vergangenheiten wider ihn auf, die er
längst abgethan glaubte; es vorgestellete sich eine Zukunft, die ihn und sein
Prinzip überholte. Es begannen die Freiheitskriege der Nationen, wie Pitt
voraus verkündigt hatte, in Spanien, -- In der Tugend höchster Selbst-
Verleugnung nud Hingabe an das Vaterland ward das neue Preußen aus-
gebaut. In ihr erst gewannen jene Erkenntnisse, die sonst nur Mißstun-
mnng und bittern Hader genährt hatten, jenes Vorwärtsdringen der jüngern
Männer, das so lange durch die Trägheit der Zustände und den herkömm¬
lichen Mechanismus des Oeffentlichen gehemmt war, Raum sich zu bethäti-


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sich in sich selber zu sichern, sondern auch die Kraft zu neuen Angliederun-
gen, die Elasticität zu unberechenbarer Ausdehnung zu haben scheint. Wie
die amerikanische Union durch ihre freiheitliche Verfassung immer neue Land¬
schaften für die Cultur und die Freiheit zu erwerben weiß, so Napoleon
durch sein Föderativstem immer neue Staaten für seine Universalgewalt.
Nie hat es einen größern Feldherrn, einen umsichtigern Regenten gegeben;
keine Unmöglichkeit, die ihn hemmt — das Nächste wie das Fernste, das
Geheimniß der Verhältnisse wie die leisesten Regungen der Seele durchschaut
er mit einem Blick, und Jedem weiß er seine Stellung zu geben. — Und
doch, es ist ein Etwas in ihm, daß uns inmitten höchster Bewunderung
verletzt. Aller Ruhmesglanz, der ihn umgibt, überwindet dies unheimliche
Grauen nicht, das der Verstand eine Thorheit schilt und das Gemüth doch
nicht los wird. — Er selbst sagt: „nie war ich Herr meiner Bewegungen;
den Ereignissen gegenüber fasse ich meine Entschlüsse." — Umsonst suchen
wir in ihm tiefere, sittliche Motive, die ihn treiben, ihn bestimmen, man
möchte sagen, mit seinem Geiste versöhnen. Alles ist ihm nur Mittel, jedes
Erreichte treibt ihn nur weiter, aus jedem Siege wuchern ihm neue Ansprüche,
neue Nothwendigkeiten, und jede treibt ihn zu weiteren Consequenzen; es
es ist die Friedlosigteit einer Dialektik, die immer maßloser, mechanischer,
unwahrer wird, je weiter sie der Widerspruch treibt; sie hat keine Ruhe,
bis sie Alles in ihre Oede verschlungen, alles Leben geformelt, alle Farben -
lust des Daseins mit ihrem Grau in Grau übertüncht hat. Er ist der Heros
des Verstandes, deö Verstandes in seiner grandiosesten, aber herzlosesten
Absolutheit.

Die Napoleonischen Scheiuverfassnngcn logen den Völkern eine staatliche
Mitbetheilignng, deren Wahrheit Frankreich selbst um des Herrschers willen
geopfert halte; sie steigerten die Willkürgewalt der Regierenden; die Ohn¬
macht der Regierten, um der Abhängigkeit beider gewiß zu sei». Napo-
leon fehlte seines Ziels; es standen Vergangenheiten wider ihn auf, die er
längst abgethan glaubte; es vorgestellete sich eine Zukunft, die ihn und sein
Prinzip überholte. Es begannen die Freiheitskriege der Nationen, wie Pitt
voraus verkündigt hatte, in Spanien, — In der Tugend höchster Selbst-
Verleugnung nud Hingabe an das Vaterland ward das neue Preußen aus-
gebaut. In ihr erst gewannen jene Erkenntnisse, die sonst nur Mißstun-
mnng und bittern Hader genährt hatten, jenes Vorwärtsdringen der jüngern
Männer, das so lange durch die Trägheit der Zustände und den herkömm¬
lichen Mechanismus des Oeffentlichen gehemmt war, Raum sich zu bethäti-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/301>, abgerufen am 22.07.2024.