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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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zunehmen, sondern deren immer neue zu bilden und sich anzugliedern und so den
Kreis ihrer großen freiheitlichen Prinzipien fort und fort erweiternd, über
die Nordhälfte jenes amerikanischen Continents die Gesittung des Abend¬
landes in der Form eines auf Fleiß und Gemeinsinn gegründeten, recht¬
lichen und geordneten Gemeinwesens, eines Fncdensstaates, wie ihn die
Welt noch nicht gesehen, zu verbreiten. Was in Europa als Traum der
Dichter und Weisen erscheint, zeigt sich in Amerika in wundervollster Weise
ausführbar. Die Schwerpunkte des geschichtlichen Lebens sind nun verwan¬
delt; es beginnt eine völlig neue Polarität in der Geschichte; der Gegensatz
des Abend- und Morgenlandes wird ersetzt durch den der alten und neuen
Welt.

Nun begann die Umwälzung in Europa. Seit zwei Jahrhunderten
hatte sich die Bildung von der Masse, der Gewinn von der Arbeit, der
Staat vom Volk, die Kirche von der Religion und von der Gemeinde so¬
weit entfernt, daß endlich eine Wandelung unvermeidlich war. Man begann
an der Aufklärung des Volks, an der Erleichterung der tiefgedrücktem unter¬
stell Classen zu arbeiten; lind indem es die Monarchen waren, die diese
Förderungen versuchten und dem feudalen und hierarchischen Unwesen ent¬
gegentraten, schien der Staat sich das Volk gleichsam neu zu gewinnen. Mit
Entschiedenheit griffen die Regierungen durch zum Wohl des Volkes; nur
daß in den Völkern selbst, in dem Maße als gewandelt wurde, das Mi߬
trauen gegen das Neue wuchs und das Vertrauen zu dem Hergebrachten
schwand. Denn die sittliche Macht, welche in jenen alten Verhältnissen einst
gelebt und sie getragen hatte, war dahin; es war von den einst lebensvol¬
len Gestaltungen nichts als die todte Larve, nichts als das positive Recht
und die Macht der Gewohnheit geblieben; wo die Hand der Negierung an
diesen verstaubten Verhältnissen zu rühren und aufzuräumen begann, zeigte
sich, wie veraltet und wurmstichig Alles war. Andererseits das Neue, was
nun erschien, ohne Anfragen der Betheiligten, ohne Berücksichtigung ihrer
Fähigkeiten, Wünsche und Rechte, nach irgend welchen Theorien ge¬
künstelt, irgend welchen fremden Mustern nachgeahmt, von oben herab be¬
fohlen, auch wohl schnell wieder aufgehoben und mit einem ebenso unerprob-
teu Andern vertauscht -- wie sollte es eine sittliche Macht über die Gemü¬
ther gewinnen, die ohne Prüfung schweigend mir hinnehmen sollten? oder
sollte die Nützlichkeit, mit der es empfohlen ward, sollte der allerhöchste Be¬
fehl, der es einführte, an die Stelle jenes tieferen Ergriffenseins treten, das
allein dem Wollen des Menschen Kraft und seinem Thun Werth verleiht?
Eben diese Auflockerung, die tief und tiefer in die Massen hinabdrang, be-


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zunehmen, sondern deren immer neue zu bilden und sich anzugliedern und so den
Kreis ihrer großen freiheitlichen Prinzipien fort und fort erweiternd, über
die Nordhälfte jenes amerikanischen Continents die Gesittung des Abend¬
landes in der Form eines auf Fleiß und Gemeinsinn gegründeten, recht¬
lichen und geordneten Gemeinwesens, eines Fncdensstaates, wie ihn die
Welt noch nicht gesehen, zu verbreiten. Was in Europa als Traum der
Dichter und Weisen erscheint, zeigt sich in Amerika in wundervollster Weise
ausführbar. Die Schwerpunkte des geschichtlichen Lebens sind nun verwan¬
delt; es beginnt eine völlig neue Polarität in der Geschichte; der Gegensatz
des Abend- und Morgenlandes wird ersetzt durch den der alten und neuen
Welt.

Nun begann die Umwälzung in Europa. Seit zwei Jahrhunderten
hatte sich die Bildung von der Masse, der Gewinn von der Arbeit, der
Staat vom Volk, die Kirche von der Religion und von der Gemeinde so¬
weit entfernt, daß endlich eine Wandelung unvermeidlich war. Man begann
an der Aufklärung des Volks, an der Erleichterung der tiefgedrücktem unter¬
stell Classen zu arbeiten; lind indem es die Monarchen waren, die diese
Förderungen versuchten und dem feudalen und hierarchischen Unwesen ent¬
gegentraten, schien der Staat sich das Volk gleichsam neu zu gewinnen. Mit
Entschiedenheit griffen die Regierungen durch zum Wohl des Volkes; nur
daß in den Völkern selbst, in dem Maße als gewandelt wurde, das Mi߬
trauen gegen das Neue wuchs und das Vertrauen zu dem Hergebrachten
schwand. Denn die sittliche Macht, welche in jenen alten Verhältnissen einst
gelebt und sie getragen hatte, war dahin; es war von den einst lebensvol¬
len Gestaltungen nichts als die todte Larve, nichts als das positive Recht
und die Macht der Gewohnheit geblieben; wo die Hand der Negierung an
diesen verstaubten Verhältnissen zu rühren und aufzuräumen begann, zeigte
sich, wie veraltet und wurmstichig Alles war. Andererseits das Neue, was
nun erschien, ohne Anfragen der Betheiligten, ohne Berücksichtigung ihrer
Fähigkeiten, Wünsche und Rechte, nach irgend welchen Theorien ge¬
künstelt, irgend welchen fremden Mustern nachgeahmt, von oben herab be¬
fohlen, auch wohl schnell wieder aufgehoben und mit einem ebenso unerprob-
teu Andern vertauscht — wie sollte es eine sittliche Macht über die Gemü¬
ther gewinnen, die ohne Prüfung schweigend mir hinnehmen sollten? oder
sollte die Nützlichkeit, mit der es empfohlen ward, sollte der allerhöchste Be¬
fehl, der es einführte, an die Stelle jenes tieferen Ergriffenseins treten, das
allein dem Wollen des Menschen Kraft und seinem Thun Werth verleiht?
Eben diese Auflockerung, die tief und tiefer in die Massen hinabdrang, be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/295>, abgerufen am 22.07.2024.