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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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kömmliche Unklarheit zu belassen. Aber die Aristokratie, deren wesentliche
Stärke das wie anch immer historisch Gewordene in all' seinen Irrationali¬
täten ist, hatte nicht den Muth, die eigentlich politischen Fragen zu berüh¬
ren. Gegen diese Lügen der bestehenden Verhältnisse, gegen diese histori¬
schen Rechte mußte sich das Recht der Geschichte geltend machen, und der
große Aufschwung des Wohlstandes und des Selbstgefühls in der Masse
hatte nun diesseits und jenseits des Oceans zu dem Punkte geführt, wo die
blos privatrechtliche Steigerung der Verhältnisse zu staatsrechtlichen Um¬
wandlungen führen zu müssen schien. Durch den amerikanischen Freiheits¬
krieg erhob steh aus der Masse großbritanischer Territorien ein neuer Staat,
ein neues Verfassungssystem. Die neue Welt begann sich dem Colonial-
system zu entreißen und damit eine der Grundlagen der europäischen Macht¬
verhältnisse zu zerstören; die Anerkennung dieser neuen Gestaltung stellte
das Rechtsprinzip, auf dem das alte Europa sich gegründet glaubte, in
Frage, stellte ihr als ebenso rechtsgültig ein anderes zur Seite, das von
völlig entgegengesetztem Inhalt war. Denn nicht in dem Zusammenhang ge¬
schichtlicher Rechte, souderu allein in der Gewalt der Masse, ihrer Bedürf¬
nisse und ihrer Ueberzeugungen war diese neue Staatsbildung gegründet;
das Volk der U! Provinzen, beginnend von der Abwehr einer Besteuerung,
die es seinem Charakter zuwider glaubte, endete damit, die höchsten Befug¬
nisse , deren Träger nach bisheriger Meinung nur Fürsten oder Stände sein
durften, die Souverainität sich selbst beizulegen. Diese neue Weise der Le¬
gitimität war es, die Europa nun anerkannte. Das Recht selbst ruhte nicht
mehr in der ihm rechtlich innewohnenden Kraft, sondern der Gebrauch, der
von ihm gemacht wurde, ward zu seinem Kriterium, also, daß sich jedes
geltende Recht gleichsam immer von Neuem rechtfertigen und als dem Willen
und dem Wohl der dabei Betheiligten angemessen aufweisen zu müssen schien.
Die Unabhängigkeitserkläruug enthielt im Wesentlichen, daß man in Kraft
der bürgerlichen Selbstständigkeit, die man besaß, die staatliche Abhängigkeit
zerbrach, und aus der bürgerliche,! Freiheit selbst deu neuen Staat hervor¬
gehen ließ. Man kehrte zu den einfachsten Verhältnissen, gleichsam zu dem
Anfang aller Staatenbildung zurück. Nur daß dieser Anfang nicht als ein
so bloß einfacher, natürlicher, aus uoch völlig ungeformten Elementen her¬
vorging. Vielmehr ging er hervor aus der ganzen Vergangenheit europäi¬
scher Entwickelungen, war eines ihrer Resultate. Es ist begreiflich, daß aus
der Unleidlichkeit der alten europäischen Verhältnisse immer neue Uebersiede-
lungen jenem Lande der Freiheit und des Friedens zueilen; und die Union
hat die Form gefunden, nicht blos sie in die schon bestehenden Staaten auf-


kömmliche Unklarheit zu belassen. Aber die Aristokratie, deren wesentliche
Stärke das wie anch immer historisch Gewordene in all' seinen Irrationali¬
täten ist, hatte nicht den Muth, die eigentlich politischen Fragen zu berüh¬
ren. Gegen diese Lügen der bestehenden Verhältnisse, gegen diese histori¬
schen Rechte mußte sich das Recht der Geschichte geltend machen, und der
große Aufschwung des Wohlstandes und des Selbstgefühls in der Masse
hatte nun diesseits und jenseits des Oceans zu dem Punkte geführt, wo die
blos privatrechtliche Steigerung der Verhältnisse zu staatsrechtlichen Um¬
wandlungen führen zu müssen schien. Durch den amerikanischen Freiheits¬
krieg erhob steh aus der Masse großbritanischer Territorien ein neuer Staat,
ein neues Verfassungssystem. Die neue Welt begann sich dem Colonial-
system zu entreißen und damit eine der Grundlagen der europäischen Macht¬
verhältnisse zu zerstören; die Anerkennung dieser neuen Gestaltung stellte
das Rechtsprinzip, auf dem das alte Europa sich gegründet glaubte, in
Frage, stellte ihr als ebenso rechtsgültig ein anderes zur Seite, das von
völlig entgegengesetztem Inhalt war. Denn nicht in dem Zusammenhang ge¬
schichtlicher Rechte, souderu allein in der Gewalt der Masse, ihrer Bedürf¬
nisse und ihrer Ueberzeugungen war diese neue Staatsbildung gegründet;
das Volk der U! Provinzen, beginnend von der Abwehr einer Besteuerung,
die es seinem Charakter zuwider glaubte, endete damit, die höchsten Befug¬
nisse , deren Träger nach bisheriger Meinung nur Fürsten oder Stände sein
durften, die Souverainität sich selbst beizulegen. Diese neue Weise der Le¬
gitimität war es, die Europa nun anerkannte. Das Recht selbst ruhte nicht
mehr in der ihm rechtlich innewohnenden Kraft, sondern der Gebrauch, der
von ihm gemacht wurde, ward zu seinem Kriterium, also, daß sich jedes
geltende Recht gleichsam immer von Neuem rechtfertigen und als dem Willen
und dem Wohl der dabei Betheiligten angemessen aufweisen zu müssen schien.
Die Unabhängigkeitserkläruug enthielt im Wesentlichen, daß man in Kraft
der bürgerlichen Selbstständigkeit, die man besaß, die staatliche Abhängigkeit
zerbrach, und aus der bürgerliche,! Freiheit selbst deu neuen Staat hervor¬
gehen ließ. Man kehrte zu den einfachsten Verhältnissen, gleichsam zu dem
Anfang aller Staatenbildung zurück. Nur daß dieser Anfang nicht als ein
so bloß einfacher, natürlicher, aus uoch völlig ungeformten Elementen her¬
vorging. Vielmehr ging er hervor aus der ganzen Vergangenheit europäi¬
scher Entwickelungen, war eines ihrer Resultate. Es ist begreiflich, daß aus
der Unleidlichkeit der alten europäischen Verhältnisse immer neue Uebersiede-
lungen jenem Lande der Freiheit und des Friedens zueilen; und die Union
hat die Form gefunden, nicht blos sie in die schon bestehenden Staaten auf-


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[0294] kömmliche Unklarheit zu belassen. Aber die Aristokratie, deren wesentliche Stärke das wie anch immer historisch Gewordene in all' seinen Irrationali¬ täten ist, hatte nicht den Muth, die eigentlich politischen Fragen zu berüh¬ ren. Gegen diese Lügen der bestehenden Verhältnisse, gegen diese histori¬ schen Rechte mußte sich das Recht der Geschichte geltend machen, und der große Aufschwung des Wohlstandes und des Selbstgefühls in der Masse hatte nun diesseits und jenseits des Oceans zu dem Punkte geführt, wo die blos privatrechtliche Steigerung der Verhältnisse zu staatsrechtlichen Um¬ wandlungen führen zu müssen schien. Durch den amerikanischen Freiheits¬ krieg erhob steh aus der Masse großbritanischer Territorien ein neuer Staat, ein neues Verfassungssystem. Die neue Welt begann sich dem Colonial- system zu entreißen und damit eine der Grundlagen der europäischen Macht¬ verhältnisse zu zerstören; die Anerkennung dieser neuen Gestaltung stellte das Rechtsprinzip, auf dem das alte Europa sich gegründet glaubte, in Frage, stellte ihr als ebenso rechtsgültig ein anderes zur Seite, das von völlig entgegengesetztem Inhalt war. Denn nicht in dem Zusammenhang ge¬ schichtlicher Rechte, souderu allein in der Gewalt der Masse, ihrer Bedürf¬ nisse und ihrer Ueberzeugungen war diese neue Staatsbildung gegründet; das Volk der U! Provinzen, beginnend von der Abwehr einer Besteuerung, die es seinem Charakter zuwider glaubte, endete damit, die höchsten Befug¬ nisse , deren Träger nach bisheriger Meinung nur Fürsten oder Stände sein durften, die Souverainität sich selbst beizulegen. Diese neue Weise der Le¬ gitimität war es, die Europa nun anerkannte. Das Recht selbst ruhte nicht mehr in der ihm rechtlich innewohnenden Kraft, sondern der Gebrauch, der von ihm gemacht wurde, ward zu seinem Kriterium, also, daß sich jedes geltende Recht gleichsam immer von Neuem rechtfertigen und als dem Willen und dem Wohl der dabei Betheiligten angemessen aufweisen zu müssen schien. Die Unabhängigkeitserkläruug enthielt im Wesentlichen, daß man in Kraft der bürgerlichen Selbstständigkeit, die man besaß, die staatliche Abhängigkeit zerbrach, und aus der bürgerliche,! Freiheit selbst deu neuen Staat hervor¬ gehen ließ. Man kehrte zu den einfachsten Verhältnissen, gleichsam zu dem Anfang aller Staatenbildung zurück. Nur daß dieser Anfang nicht als ein so bloß einfacher, natürlicher, aus uoch völlig ungeformten Elementen her¬ vorging. Vielmehr ging er hervor aus der ganzen Vergangenheit europäi¬ scher Entwickelungen, war eines ihrer Resultate. Es ist begreiflich, daß aus der Unleidlichkeit der alten europäischen Verhältnisse immer neue Uebersiede- lungen jenem Lande der Freiheit und des Friedens zueilen; und die Union hat die Form gefunden, nicht blos sie in die schon bestehenden Staaten auf-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/294>, abgerufen am 22.07.2024.