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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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Großthaten das Wesentliche des geschichtlichen Lebens, den sittlichen Geist
des Volks aus den Augen rücke. Alis dieser Tendenz ist die Ansicht von
dem organischen Naturwuchs der Staateil und Völker hervorgegangen, die
bei aller Verwirrung, die sie in der Politik angerichtet hat, auf die Ge¬
schichte von unberechenbar wohlthätigem Einfluß gewesen ist; denn sie hob
deu Dünkel einer einseitigen Bildung auf, die mit dem Gegebenen fertig
ist, sobald sie es an irgend einer Kategorie der Gegenwart messen kann.

Die neueste Geschichtschreibung hat die Aufgabe, beide Tendenzen zu
vermitteln; mit Andacht in das Einzelne sich zu vertiefen, ohne die leitende
Idee des Ganzen aus den Augen zu verlieren. Einen Maßstab für den
Erfolg dieser Bestrebungen zu gewinnen, dazu soll die folgende Reihe von
Aufsätzen ein Beitrag sein.

I) I. G. Droysen,
Vorlesungen über die Freiheitskriege.

1. und 2. Band. Kiel 1846. Universitätsbuchhandlung.

Was wir Deutsche gewöhnlich mit dem Namen Freiheitskriege bezeich¬
nen, ist nur der Schluß einer ganzen Reihe von Völkerkämpfen um die Frei¬
heit, von Kämpfen, die dnrch einen weiten Kreis umbildender Entwickelun¬
gen vorbereitet, endlich hervorbrechen, um in funfzig Jahren ungeheuerster
Wechsel alle staatlichen und soziale" Verhältnisse, die gesammte Weltlage
umzugestalten.

Diese Bewegungen in ihrem geistigen Zusammenhang anschaulich zu
schildern, war der Zweck dieser Vorlesungen, die im Winter 1842 -- 43 in
Kiel gehalten wurden. Von einer eigentlich historischen Forschung ist hier
nicht die Rede; wenn die Betrachtung anch in der Vergangenheit verweilt,
so ist es doch immer die Gegenwart, die in dem Redner lebt, und an die
er sich wendet.

Jene Freiheitskriege entsprangen aus einem innern Widerspruch des
Staates. Er hatte angefangen sich als das Allgemeine der particulären
Rechtsbestiminuiigm entgegenzusetzen, gehörte aber nicht den Völkern an,
sondern einem Monarchen, der Land und Leute als Eigenthum besaß, als
eine Domaine, die höchstens gut zu bewirthschaften sein Vortheil riech. Er
war nicht das immanent Allgemeine des geschichtlichen und Rechtslebens der
natürlich geeinten Bevölkerungen, sondern die Verallgemeinerung des einen
landesherrlichen Rechtes über alle andern gleich historischen Berechtigungen,
eme Abstraction von ungeheurer Gewalt, von maßlosem Anspruch, und diese
in die Willkür eines Sterblichen gelegt. Der Staat hatte völlig die Basis


Großthaten das Wesentliche des geschichtlichen Lebens, den sittlichen Geist
des Volks aus den Augen rücke. Alis dieser Tendenz ist die Ansicht von
dem organischen Naturwuchs der Staateil und Völker hervorgegangen, die
bei aller Verwirrung, die sie in der Politik angerichtet hat, auf die Ge¬
schichte von unberechenbar wohlthätigem Einfluß gewesen ist; denn sie hob
deu Dünkel einer einseitigen Bildung auf, die mit dem Gegebenen fertig
ist, sobald sie es an irgend einer Kategorie der Gegenwart messen kann.

Die neueste Geschichtschreibung hat die Aufgabe, beide Tendenzen zu
vermitteln; mit Andacht in das Einzelne sich zu vertiefen, ohne die leitende
Idee des Ganzen aus den Augen zu verlieren. Einen Maßstab für den
Erfolg dieser Bestrebungen zu gewinnen, dazu soll die folgende Reihe von
Aufsätzen ein Beitrag sein.

I) I. G. Droysen,
Vorlesungen über die Freiheitskriege.

1. und 2. Band. Kiel 1846. Universitätsbuchhandlung.

Was wir Deutsche gewöhnlich mit dem Namen Freiheitskriege bezeich¬
nen, ist nur der Schluß einer ganzen Reihe von Völkerkämpfen um die Frei¬
heit, von Kämpfen, die dnrch einen weiten Kreis umbildender Entwickelun¬
gen vorbereitet, endlich hervorbrechen, um in funfzig Jahren ungeheuerster
Wechsel alle staatlichen und soziale» Verhältnisse, die gesammte Weltlage
umzugestalten.

Diese Bewegungen in ihrem geistigen Zusammenhang anschaulich zu
schildern, war der Zweck dieser Vorlesungen, die im Winter 1842 — 43 in
Kiel gehalten wurden. Von einer eigentlich historischen Forschung ist hier
nicht die Rede; wenn die Betrachtung anch in der Vergangenheit verweilt,
so ist es doch immer die Gegenwart, die in dem Redner lebt, und an die
er sich wendet.

Jene Freiheitskriege entsprangen aus einem innern Widerspruch des
Staates. Er hatte angefangen sich als das Allgemeine der particulären
Rechtsbestiminuiigm entgegenzusetzen, gehörte aber nicht den Völkern an,
sondern einem Monarchen, der Land und Leute als Eigenthum besaß, als
eine Domaine, die höchstens gut zu bewirthschaften sein Vortheil riech. Er
war nicht das immanent Allgemeine des geschichtlichen und Rechtslebens der
natürlich geeinten Bevölkerungen, sondern die Verallgemeinerung des einen
landesherrlichen Rechtes über alle andern gleich historischen Berechtigungen,
eme Abstraction von ungeheurer Gewalt, von maßlosem Anspruch, und diese
in die Willkür eines Sterblichen gelegt. Der Staat hatte völlig die Basis


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[0286] Großthaten das Wesentliche des geschichtlichen Lebens, den sittlichen Geist des Volks aus den Augen rücke. Alis dieser Tendenz ist die Ansicht von dem organischen Naturwuchs der Staateil und Völker hervorgegangen, die bei aller Verwirrung, die sie in der Politik angerichtet hat, auf die Ge¬ schichte von unberechenbar wohlthätigem Einfluß gewesen ist; denn sie hob deu Dünkel einer einseitigen Bildung auf, die mit dem Gegebenen fertig ist, sobald sie es an irgend einer Kategorie der Gegenwart messen kann. Die neueste Geschichtschreibung hat die Aufgabe, beide Tendenzen zu vermitteln; mit Andacht in das Einzelne sich zu vertiefen, ohne die leitende Idee des Ganzen aus den Augen zu verlieren. Einen Maßstab für den Erfolg dieser Bestrebungen zu gewinnen, dazu soll die folgende Reihe von Aufsätzen ein Beitrag sein. I) I. G. Droysen, Vorlesungen über die Freiheitskriege. 1. und 2. Band. Kiel 1846. Universitätsbuchhandlung. Was wir Deutsche gewöhnlich mit dem Namen Freiheitskriege bezeich¬ nen, ist nur der Schluß einer ganzen Reihe von Völkerkämpfen um die Frei¬ heit, von Kämpfen, die dnrch einen weiten Kreis umbildender Entwickelun¬ gen vorbereitet, endlich hervorbrechen, um in funfzig Jahren ungeheuerster Wechsel alle staatlichen und soziale» Verhältnisse, die gesammte Weltlage umzugestalten. Diese Bewegungen in ihrem geistigen Zusammenhang anschaulich zu schildern, war der Zweck dieser Vorlesungen, die im Winter 1842 — 43 in Kiel gehalten wurden. Von einer eigentlich historischen Forschung ist hier nicht die Rede; wenn die Betrachtung anch in der Vergangenheit verweilt, so ist es doch immer die Gegenwart, die in dem Redner lebt, und an die er sich wendet. Jene Freiheitskriege entsprangen aus einem innern Widerspruch des Staates. Er hatte angefangen sich als das Allgemeine der particulären Rechtsbestiminuiigm entgegenzusetzen, gehörte aber nicht den Völkern an, sondern einem Monarchen, der Land und Leute als Eigenthum besaß, als eine Domaine, die höchstens gut zu bewirthschaften sein Vortheil riech. Er war nicht das immanent Allgemeine des geschichtlichen und Rechtslebens der natürlich geeinten Bevölkerungen, sondern die Verallgemeinerung des einen landesherrlichen Rechtes über alle andern gleich historischen Berechtigungen, eme Abstraction von ungeheurer Gewalt, von maßlosem Anspruch, und diese in die Willkür eines Sterblichen gelegt. Der Staat hatte völlig die Basis

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/286>, abgerufen am 22.07.2024.