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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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Wenn aber, das politische, so wie das materielle Interesse Oestereichs zu
einem compakten Ganzen sich vereinigt hat, so müssen diese doch mächtiger gewe¬
sen sein, als die nationalen Sympathien.

England, Nordamerika beweisen übrigens thatsächlich, daß die Racenverschie-
denheit kein Hinderniß ist, die höchsten Civilisationszwecke zu erreichen, welche die
Aufgabe der Menschheit sind; und wir sehen dort in dem gemeinsamen Streben,
in dem gemeinsamen Ziel, in der Erinnerung des gemeinsam Geforderten die Tra¬
dition ehemaliger Stammverwandtschaft zurücktreten gegen das Gefühl einer neue",
höher stehenden Gesammtheit.

Wenn aber dies auch Alles zugegeben wird, so kann mindestens die staats¬
rechtliche Sonderung der Länder, die wir gegenwärtig unter der österreichischen
Kaiserkrone vereinigt finden, nicht in Abrede gestellt werden, und es wird Viele
geben, die sowohl hierin als in den mannigfach divergirenden Richtungen, nach
welchen sich das innere und äußere Leben dieser Länder gestaltet, den thatsächlich¬
sten Beweis erblicken, daß Oesterreich nichts weniger als ein Gesammtstaat, ja
nicht einmal ein Bundesstaat, souderu blos ein unter einer Krone vereinigter
Staatencomplex sei. Und dies ist denn auch nicht wegzuleugnen, wenn man auf
die verschiedenen Landesverfassungen, Gesetze, Zollgrenzen, Bcstenernngsverhältnisse
und so vieles Andere einen Blick wirft. Ja sogar das Auseinanderfallen der Län¬
der ist denkbar, indem z. B. in Böhmen grnndgesetzlich das Recht der Königswahl
nach Erlöschnng des gegenwärtigen Regentenstammes besteht.

Von diesem Standpunkte aus betrachtet, gibt es, so geläufig der Begriff
auch Jedermann geworden, keine österreichische Monarchie, gibt es trotz des Kai¬
sertitels keinen Kaiserstaat.

Sicht man jedoch von den formellen Verhältnissen ab, so stellen sich Thatsachen
den Pergamenten gegenüber, die schwerer wiegen als diese, und zwar nicht nur solche,
welche auf den nachgewiesenen inneren Gründen der Einigung beruhen, sondern auch
eine Reihe von Begebenheiten, aus welchen der österreichische Gesammtstaat bereits
faktisch hervorgegangen ist, wenn gleich verabsäumt wurde, dies formell und urkundlich
völlig festzustellen. Sie beginnen, wie überall, wo keine gewaltsame und den natürlichen
Sympathien widerstreitende Zusammenfügung stattfand, mit dem allmählichen Ver¬
wittern und Einsinken der Scheidewände und der in der natürlichen Tendenz je¬
der Centralgewalt liegenden möglichsten Verallgemeinerung von Gesetz, Sitte und
Gewohnheit. Wir sehen daher auch schon in früher Zeit Gesetze und Verordnun-
gen in Oesterreich entstehen, die nach Umstände" in allen vereinigten Ländern,
oder doch in mehreren derselben Geltung erhielten. Vor Allem aber war es die
pragmatische Sanction, durch welche zum ersten Mal sämmtliche österreichische Lande
unter dem Gesichtspunkte eines untrennbaren Ganzen freiwillig einem gleichen we¬
sentlichen Grundgesetz sich unterwarfen, und zwar durchaus ohne Rücksicht auf ihre
darauf Bezug nehmende Partikularrechte, die hier mit vollem Selbstbewußtsein auf-


Wenn aber, das politische, so wie das materielle Interesse Oestereichs zu
einem compakten Ganzen sich vereinigt hat, so müssen diese doch mächtiger gewe¬
sen sein, als die nationalen Sympathien.

England, Nordamerika beweisen übrigens thatsächlich, daß die Racenverschie-
denheit kein Hinderniß ist, die höchsten Civilisationszwecke zu erreichen, welche die
Aufgabe der Menschheit sind; und wir sehen dort in dem gemeinsamen Streben,
in dem gemeinsamen Ziel, in der Erinnerung des gemeinsam Geforderten die Tra¬
dition ehemaliger Stammverwandtschaft zurücktreten gegen das Gefühl einer neue»,
höher stehenden Gesammtheit.

Wenn aber dies auch Alles zugegeben wird, so kann mindestens die staats¬
rechtliche Sonderung der Länder, die wir gegenwärtig unter der österreichischen
Kaiserkrone vereinigt finden, nicht in Abrede gestellt werden, und es wird Viele
geben, die sowohl hierin als in den mannigfach divergirenden Richtungen, nach
welchen sich das innere und äußere Leben dieser Länder gestaltet, den thatsächlich¬
sten Beweis erblicken, daß Oesterreich nichts weniger als ein Gesammtstaat, ja
nicht einmal ein Bundesstaat, souderu blos ein unter einer Krone vereinigter
Staatencomplex sei. Und dies ist denn auch nicht wegzuleugnen, wenn man auf
die verschiedenen Landesverfassungen, Gesetze, Zollgrenzen, Bcstenernngsverhältnisse
und so vieles Andere einen Blick wirft. Ja sogar das Auseinanderfallen der Län¬
der ist denkbar, indem z. B. in Böhmen grnndgesetzlich das Recht der Königswahl
nach Erlöschnng des gegenwärtigen Regentenstammes besteht.

Von diesem Standpunkte aus betrachtet, gibt es, so geläufig der Begriff
auch Jedermann geworden, keine österreichische Monarchie, gibt es trotz des Kai¬
sertitels keinen Kaiserstaat.

Sicht man jedoch von den formellen Verhältnissen ab, so stellen sich Thatsachen
den Pergamenten gegenüber, die schwerer wiegen als diese, und zwar nicht nur solche,
welche auf den nachgewiesenen inneren Gründen der Einigung beruhen, sondern auch
eine Reihe von Begebenheiten, aus welchen der österreichische Gesammtstaat bereits
faktisch hervorgegangen ist, wenn gleich verabsäumt wurde, dies formell und urkundlich
völlig festzustellen. Sie beginnen, wie überall, wo keine gewaltsame und den natürlichen
Sympathien widerstreitende Zusammenfügung stattfand, mit dem allmählichen Ver¬
wittern und Einsinken der Scheidewände und der in der natürlichen Tendenz je¬
der Centralgewalt liegenden möglichsten Verallgemeinerung von Gesetz, Sitte und
Gewohnheit. Wir sehen daher auch schon in früher Zeit Gesetze und Verordnun-
gen in Oesterreich entstehen, die nach Umstände» in allen vereinigten Ländern,
oder doch in mehreren derselben Geltung erhielten. Vor Allem aber war es die
pragmatische Sanction, durch welche zum ersten Mal sämmtliche österreichische Lande
unter dem Gesichtspunkte eines untrennbaren Ganzen freiwillig einem gleichen we¬
sentlichen Grundgesetz sich unterwarfen, und zwar durchaus ohne Rücksicht auf ihre
darauf Bezug nehmende Partikularrechte, die hier mit vollem Selbstbewußtsein auf-


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[0504] Wenn aber, das politische, so wie das materielle Interesse Oestereichs zu einem compakten Ganzen sich vereinigt hat, so müssen diese doch mächtiger gewe¬ sen sein, als die nationalen Sympathien. England, Nordamerika beweisen übrigens thatsächlich, daß die Racenverschie- denheit kein Hinderniß ist, die höchsten Civilisationszwecke zu erreichen, welche die Aufgabe der Menschheit sind; und wir sehen dort in dem gemeinsamen Streben, in dem gemeinsamen Ziel, in der Erinnerung des gemeinsam Geforderten die Tra¬ dition ehemaliger Stammverwandtschaft zurücktreten gegen das Gefühl einer neue», höher stehenden Gesammtheit. Wenn aber dies auch Alles zugegeben wird, so kann mindestens die staats¬ rechtliche Sonderung der Länder, die wir gegenwärtig unter der österreichischen Kaiserkrone vereinigt finden, nicht in Abrede gestellt werden, und es wird Viele geben, die sowohl hierin als in den mannigfach divergirenden Richtungen, nach welchen sich das innere und äußere Leben dieser Länder gestaltet, den thatsächlich¬ sten Beweis erblicken, daß Oesterreich nichts weniger als ein Gesammtstaat, ja nicht einmal ein Bundesstaat, souderu blos ein unter einer Krone vereinigter Staatencomplex sei. Und dies ist denn auch nicht wegzuleugnen, wenn man auf die verschiedenen Landesverfassungen, Gesetze, Zollgrenzen, Bcstenernngsverhältnisse und so vieles Andere einen Blick wirft. Ja sogar das Auseinanderfallen der Län¬ der ist denkbar, indem z. B. in Böhmen grnndgesetzlich das Recht der Königswahl nach Erlöschnng des gegenwärtigen Regentenstammes besteht. Von diesem Standpunkte aus betrachtet, gibt es, so geläufig der Begriff auch Jedermann geworden, keine österreichische Monarchie, gibt es trotz des Kai¬ sertitels keinen Kaiserstaat. Sicht man jedoch von den formellen Verhältnissen ab, so stellen sich Thatsachen den Pergamenten gegenüber, die schwerer wiegen als diese, und zwar nicht nur solche, welche auf den nachgewiesenen inneren Gründen der Einigung beruhen, sondern auch eine Reihe von Begebenheiten, aus welchen der österreichische Gesammtstaat bereits faktisch hervorgegangen ist, wenn gleich verabsäumt wurde, dies formell und urkundlich völlig festzustellen. Sie beginnen, wie überall, wo keine gewaltsame und den natürlichen Sympathien widerstreitende Zusammenfügung stattfand, mit dem allmählichen Ver¬ wittern und Einsinken der Scheidewände und der in der natürlichen Tendenz je¬ der Centralgewalt liegenden möglichsten Verallgemeinerung von Gesetz, Sitte und Gewohnheit. Wir sehen daher auch schon in früher Zeit Gesetze und Verordnun- gen in Oesterreich entstehen, die nach Umstände» in allen vereinigten Ländern, oder doch in mehreren derselben Geltung erhielten. Vor Allem aber war es die pragmatische Sanction, durch welche zum ersten Mal sämmtliche österreichische Lande unter dem Gesichtspunkte eines untrennbaren Ganzen freiwillig einem gleichen we¬ sentlichen Grundgesetz sich unterwarfen, und zwar durchaus ohne Rücksicht auf ihre darauf Bezug nehmende Partikularrechte, die hier mit vollem Selbstbewußtsein auf-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/504>, abgerufen am 22.07.2024.