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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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raschende Aussicht in die verborgenen Theile der Geschichte eröffnen. Man kann
nicht gerade sagen, daß man dadurch den wirklichen Zusammenhang gründlicher über¬
sehe, man bleibt beim Gefühl der Ueberraschung, aber man wird auf weitere Aussich¬
ten geführt, und wenigstens in der Ahnung dichtet man sich ein Gemälde zusam¬
men, das, wenn nicht objective Wahrheit, doch eine innere Harmonie an sich trägt.
In dem oft zu weit ausgedehnten Detail der Niederländischen Geschichten finden
sich öfters solche kühne Gedankenblitze, noch mehr aber in der Italienischen Ge¬
schichte, von der man sagen kann, sie bestehe aus einer Reihe geistvoller Apercus
durch einen Wust unbezwungenen Materials lose aneiuaudergcknüpft. Die Ausein¬
andersetzung der sittlichen und rechtlichen Verhältnisse des alten Italiens -- er be¬
ginnt mit der lombardischen Herrschaft, weil erst durch sie Italien ernstlich germanisirt
wurde -- ist in Beziehung auf die Klarheit der Darstellung und die Auswahl
prägnanter Thatsachen musterhaft zu nennen. Leo befriedigt überhaupt immer mehr
in der Auseinandersetzung vou Zuständen als in der historischen Entwickelung; ein
Unterschied, der sich natürlich aus seinem Blick für das Einzelne, Endliche, Pikante
erklärt. Das Werden erregt ihm Unbehagen, nur wo er ruhen kauu, ist
ihm wohl zu Muth. So ist auch in der Geschichte des Mittelalters die Darstel¬
lung der hanseatischen und der rheinbüudischeu Zustände vortrefflich; sie aber in
ihrer Auflösung, in dem Ineinandergreife" der großen Weltverhältnisse zu verfol¬
gen, ist ihm zuwider, und was ihm zuwider ist, damit ist er schnell fertig. Der
Lauf der Geschichte hat etwas Gemüthloses für deu endlichen Geist, der nicht an
die Idee der Menschheit glaubt. Als daher Leo an die neuere Geschichte kommt,
erklärt er geradezu, es wäre lauter Verkehrtheit, er wolle sie uur der Vollständig¬
keit wegen in seine Darstellung mit aufnehmen. Natürlich wird den" auch die
Geschichte zu einem wunderlichen Chaos entstellt. Denn bei aller Antipathie gegen
die Ideen, welche des Menschen Herz beseele", hat er doch seiue Schemate und ist
ein arger Doctriuair; wenn sich ihm ein geistreicher Einfall darbietet, so beutet er
ihn aus, mag es auch auf Kosten der objectiven Wahrheit geschehn. So kommt er
bei der Geschichte Venedigs auf deu allerliebsten Einfall, es mit einem Schiff zu
vergleichen; die Localität paßt vortrefflich, in deu Nechtöiustitutiouen finden sich
auch Vergleichspunkte genug, aber nun wird der Einfall zu Tode gehetzt, und
alles Einzelne, das sich über Venedig sagen läßt, darauf bezogen. Eine solche
Art der Construction befriedigt weder den Philosophen "och den objectiven Histo¬
riker; mau wird angeregt, aber nicht belehrt. So weiß er für die weitere Ent¬
wickelung des venetianischen Staatslebens die artigsten Formeln aufzufinden, so
daß man vollkommen ->u tun zu sein glaubt, es ist alles abgerundet, durchsichtig,
harmonisch; aber mit der Kritik wird es nicht genau genommen.

Mit der größten Vorliebe ist unstreitig das 12., 13. nud 14. Jahrhundert
behandelt. Hier gerathen die verschiedenen Sympathien des Geschichtsschreibers
-- Kaiserthum, Kirche, organisches Städtewesen -- mit einander in Conflict, und


raschende Aussicht in die verborgenen Theile der Geschichte eröffnen. Man kann
nicht gerade sagen, daß man dadurch den wirklichen Zusammenhang gründlicher über¬
sehe, man bleibt beim Gefühl der Ueberraschung, aber man wird auf weitere Aussich¬
ten geführt, und wenigstens in der Ahnung dichtet man sich ein Gemälde zusam¬
men, das, wenn nicht objective Wahrheit, doch eine innere Harmonie an sich trägt.
In dem oft zu weit ausgedehnten Detail der Niederländischen Geschichten finden
sich öfters solche kühne Gedankenblitze, noch mehr aber in der Italienischen Ge¬
schichte, von der man sagen kann, sie bestehe aus einer Reihe geistvoller Apercus
durch einen Wust unbezwungenen Materials lose aneiuaudergcknüpft. Die Ausein¬
andersetzung der sittlichen und rechtlichen Verhältnisse des alten Italiens — er be¬
ginnt mit der lombardischen Herrschaft, weil erst durch sie Italien ernstlich germanisirt
wurde — ist in Beziehung auf die Klarheit der Darstellung und die Auswahl
prägnanter Thatsachen musterhaft zu nennen. Leo befriedigt überhaupt immer mehr
in der Auseinandersetzung vou Zuständen als in der historischen Entwickelung; ein
Unterschied, der sich natürlich aus seinem Blick für das Einzelne, Endliche, Pikante
erklärt. Das Werden erregt ihm Unbehagen, nur wo er ruhen kauu, ist
ihm wohl zu Muth. So ist auch in der Geschichte des Mittelalters die Darstel¬
lung der hanseatischen und der rheinbüudischeu Zustände vortrefflich; sie aber in
ihrer Auflösung, in dem Ineinandergreife» der großen Weltverhältnisse zu verfol¬
gen, ist ihm zuwider, und was ihm zuwider ist, damit ist er schnell fertig. Der
Lauf der Geschichte hat etwas Gemüthloses für deu endlichen Geist, der nicht an
die Idee der Menschheit glaubt. Als daher Leo an die neuere Geschichte kommt,
erklärt er geradezu, es wäre lauter Verkehrtheit, er wolle sie uur der Vollständig¬
keit wegen in seine Darstellung mit aufnehmen. Natürlich wird den» auch die
Geschichte zu einem wunderlichen Chaos entstellt. Denn bei aller Antipathie gegen
die Ideen, welche des Menschen Herz beseele», hat er doch seiue Schemate und ist
ein arger Doctriuair; wenn sich ihm ein geistreicher Einfall darbietet, so beutet er
ihn aus, mag es auch auf Kosten der objectiven Wahrheit geschehn. So kommt er
bei der Geschichte Venedigs auf deu allerliebsten Einfall, es mit einem Schiff zu
vergleichen; die Localität paßt vortrefflich, in deu Nechtöiustitutiouen finden sich
auch Vergleichspunkte genug, aber nun wird der Einfall zu Tode gehetzt, und
alles Einzelne, das sich über Venedig sagen läßt, darauf bezogen. Eine solche
Art der Construction befriedigt weder den Philosophen «och den objectiven Histo¬
riker; mau wird angeregt, aber nicht belehrt. So weiß er für die weitere Ent¬
wickelung des venetianischen Staatslebens die artigsten Formeln aufzufinden, so
daß man vollkommen ->u tun zu sein glaubt, es ist alles abgerundet, durchsichtig,
harmonisch; aber mit der Kritik wird es nicht genau genommen.

Mit der größten Vorliebe ist unstreitig das 12., 13. nud 14. Jahrhundert
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— Kaiserthum, Kirche, organisches Städtewesen — mit einander in Conflict, und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/468>, abgerufen am 22.07.2024.