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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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ihrem Fürsten gegenüber als rechtlos betrachtet werden. Und doch ist das viel¬
leicht zu viel gesagt. Denn die Beschwerde an den deutschen Bund in jener Sache
ging nicht von den legitimen Stünden aus, an denen die Rechtsverletzung verübt
war: diese bestanden factisch nicht mehr. Der Bundestag ging von der Ansicht
ans: wo kein Kläger, ist kein Richter, und wo der gekränkte Theil nicht mehr
existirt, kann er auch nicht klagen.

In Kurhessen bestehen gegenwärtig die Stände noch, ja es ist noch nicht ein¬
mal die bestimmte Absicht des Regenten ausgesprochen, in ihrem Bestehen irgeud
eine Veränderung eintreten zu lassen. Es wäre möglich, daß diese Stande vor
ihrer zu erwartenden Auslösung beim Bunde klagbar würden. Bei dieser Sach¬
lage ist es von Wichtigkeit, sich unbefangen über diese Fragen Rechenschaft zu ge¬
ben: !) Besteht die gegenwärtige Landesverfassung zu Recht? 2) Hat das Hes¬
sische Volk, hat der deutsche Bund, hat die gesammte Nation ein wirkliches In¬
teresse daran, für dieses Rechtsverhältniß einzustehen? --

Zur Beantwortung der ersten Frage ist vor allem nöthig, zu zeigen, wie die
Verfassung entstand. Es kommt uns hier natürlich nur ans die wesentlichen
Punkte an.

Die Restauration war in keinem Theile von Deutschland thätiger und eindring¬
licher gewesen, als in Kurhessen; denn hier, im Sitz des französischen Königreiches
Westphalen mußte sich die nationale Antipathie des Volkes mit der prinzipiellen
der alten Legitimität vereinigen. Manche vernünftige Einrichtung ging in dieser
Restauration zu Grunde. Nirgend aber war auch die Desorganisation aller öffent¬
lichen Verhältnisse größer, nirgend des Bedürfniß fühlbarer, durch Wechselwirkung
der Regierung und des Volkes, das völlig ausgelöste Staatswesen von Neuem
zu organisiren. Was also in allen deutschen Staaten ein dnrch die Bundesacte
garantirtcr Rechtsanspruch war --die Einführung einer repräsentativen Verfassung,
-- war für Hessen eine unbeweisbare Nothwendigkeit. So wurde denn anch in
der That den 1. März I8l5 der erste Landtag einberufen, der sich aber weder
über die Verfassungsfrage, uoch über die Finanzangelegenheiten mit der Regierung
einigen konnte. Er wurde deshalb zuerst prorogirt, endlich -- den 10. März l8is
-- ohne Abschied geschlossen. Dies war, da er l4 Jahre hindurch nicht wieder
einberufen wurde, vou Seiten der Regierung eine Rechtsverletzung, die nur allen¬
falls durch die Noth der Umstände entschuldigt werden, die aber dem Volk von
seinem Recht der ständischen Vertretung und der Mitwirkung an der Finanzver-
waltung nichts entziehen konnte. Auch hat der Landtag nicht unterlassen, sich in
einem besondern Promemoria vom ! N. Mai l8tu seine Rechte ausdrücklich vorm--
behalte" und den ständischen Ausschuß mit einer Instruction über die Verwendung
der genehmigten Landesschuldentilgungssteuer zu versehen.

Es hat im Laufe der folgenden Jahre nicht an Versuchen gefehlt, auf recht¬
lichem Wege die Wiederherstellung des verletzten Rechtszustandes zu veranlassen."


<Lrcnzl>"le". IV. 1547. SK

ihrem Fürsten gegenüber als rechtlos betrachtet werden. Und doch ist das viel¬
leicht zu viel gesagt. Denn die Beschwerde an den deutschen Bund in jener Sache
ging nicht von den legitimen Stünden aus, an denen die Rechtsverletzung verübt
war: diese bestanden factisch nicht mehr. Der Bundestag ging von der Ansicht
ans: wo kein Kläger, ist kein Richter, und wo der gekränkte Theil nicht mehr
existirt, kann er auch nicht klagen.

In Kurhessen bestehen gegenwärtig die Stände noch, ja es ist noch nicht ein¬
mal die bestimmte Absicht des Regenten ausgesprochen, in ihrem Bestehen irgeud
eine Veränderung eintreten zu lassen. Es wäre möglich, daß diese Stande vor
ihrer zu erwartenden Auslösung beim Bunde klagbar würden. Bei dieser Sach¬
lage ist es von Wichtigkeit, sich unbefangen über diese Fragen Rechenschaft zu ge¬
ben: !) Besteht die gegenwärtige Landesverfassung zu Recht? 2) Hat das Hes¬
sische Volk, hat der deutsche Bund, hat die gesammte Nation ein wirkliches In¬
teresse daran, für dieses Rechtsverhältniß einzustehen? —

Zur Beantwortung der ersten Frage ist vor allem nöthig, zu zeigen, wie die
Verfassung entstand. Es kommt uns hier natürlich nur ans die wesentlichen
Punkte an.

Die Restauration war in keinem Theile von Deutschland thätiger und eindring¬
licher gewesen, als in Kurhessen; denn hier, im Sitz des französischen Königreiches
Westphalen mußte sich die nationale Antipathie des Volkes mit der prinzipiellen
der alten Legitimität vereinigen. Manche vernünftige Einrichtung ging in dieser
Restauration zu Grunde. Nirgend aber war auch die Desorganisation aller öffent¬
lichen Verhältnisse größer, nirgend des Bedürfniß fühlbarer, durch Wechselwirkung
der Regierung und des Volkes, das völlig ausgelöste Staatswesen von Neuem
zu organisiren. Was also in allen deutschen Staaten ein dnrch die Bundesacte
garantirtcr Rechtsanspruch war —die Einführung einer repräsentativen Verfassung,
— war für Hessen eine unbeweisbare Nothwendigkeit. So wurde denn anch in
der That den 1. März I8l5 der erste Landtag einberufen, der sich aber weder
über die Verfassungsfrage, uoch über die Finanzangelegenheiten mit der Regierung
einigen konnte. Er wurde deshalb zuerst prorogirt, endlich — den 10. März l8is
— ohne Abschied geschlossen. Dies war, da er l4 Jahre hindurch nicht wieder
einberufen wurde, vou Seiten der Regierung eine Rechtsverletzung, die nur allen¬
falls durch die Noth der Umstände entschuldigt werden, die aber dem Volk von
seinem Recht der ständischen Vertretung und der Mitwirkung an der Finanzver-
waltung nichts entziehen konnte. Auch hat der Landtag nicht unterlassen, sich in
einem besondern Promemoria vom ! N. Mai l8tu seine Rechte ausdrücklich vorm--
behalte» und den ständischen Ausschuß mit einer Instruction über die Verwendung
der genehmigten Landesschuldentilgungssteuer zu versehen.

Es hat im Laufe der folgenden Jahre nicht an Versuchen gefehlt, auf recht¬
lichem Wege die Wiederherstellung des verletzten Rechtszustandes zu veranlassen."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/441>, abgerufen am 22.07.2024.