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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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sterlandcö an Intelligenz hervor. Ein Factum wird genügen, den geistigen Zustand
dieser Letzteren aufzudecken. Es war in einem Dorfe seit einer langen Reihe von Jah¬
ren üblich gewesen, daß der Charfreitag dadurch gefeiert wurde, daß ein vierschrötiges
Gemeindeglied aus ein großes Kreuz geschnallt, und in dieser Lage durch das Dorf ge¬
tragen wurde. Der Gekreuzigte mußte die Lcidcnswortc Christi der Reihenfolge nach
ausrufen; bei dem "Mich dürstet!" wurde ihm ein in Branntwein eingetauchter
Schwamm hingehalten, den er aufzusaugen sich bemühte. Das Volk ging andächtig
hinterher. Die preußische Regierung wollte dem, während des EpiScopats aufgekom¬
menen, frommen Unwesen steuern. Es gelang ihr dies aber erst nach mehrmaligen
Zusammenrottungen der Dorfbewohner, und nach mehrmaligen Attentaten ans die Fen¬
sterscheiben des Rathhauses. Die Bemühungen der preußischen Regierung für erhöhte
Schulbildung können nicht genug anerkannt werden. Die Elementarkenntnisse sind jetzt
fast Jedem geläufig, während sie noch vor zwanzig Jahren selten gefunden wurden.

Der Kern des westfälischen Volkes ist gesund, die Verhältnisse sind noch natür¬
lich, der Geschmack durch Gcschrobcnhcit noch nicht verbildet; der westphälische Scharf¬
sinn ist bekannt. Es kommt nur darauf an, diesen kräftigen Boden zu bebauen.
Durch die eiserne Kette der Schienen ist Westphalen jetzt an die übrige Welt gefesselt;
es ist gezwungen, in den Weltverkehr zu treten. Seine Bequemlichkeit muß auf et¬
was Anderes gerichtet werden, als auf die bloße Erhaltung der Zustände. Wie es
für diese immer Leben und Gut aufs Spiel setzte, wie es mit bewundernswerther
Treue an dem Angestammten festhielt, so möge es, vom fortschreitenden Geiste be¬
fruchtet, auf diesen seine Treue werfen, und die Treue für die Idee wird ihm die
S -- " -- ympathie seiner deutschen Mitbürger wieder erwerben.




sterlandcö an Intelligenz hervor. Ein Factum wird genügen, den geistigen Zustand
dieser Letzteren aufzudecken. Es war in einem Dorfe seit einer langen Reihe von Jah¬
ren üblich gewesen, daß der Charfreitag dadurch gefeiert wurde, daß ein vierschrötiges
Gemeindeglied aus ein großes Kreuz geschnallt, und in dieser Lage durch das Dorf ge¬
tragen wurde. Der Gekreuzigte mußte die Lcidcnswortc Christi der Reihenfolge nach
ausrufen; bei dem „Mich dürstet!" wurde ihm ein in Branntwein eingetauchter
Schwamm hingehalten, den er aufzusaugen sich bemühte. Das Volk ging andächtig
hinterher. Die preußische Regierung wollte dem, während des EpiScopats aufgekom¬
menen, frommen Unwesen steuern. Es gelang ihr dies aber erst nach mehrmaligen
Zusammenrottungen der Dorfbewohner, und nach mehrmaligen Attentaten ans die Fen¬
sterscheiben des Rathhauses. Die Bemühungen der preußischen Regierung für erhöhte
Schulbildung können nicht genug anerkannt werden. Die Elementarkenntnisse sind jetzt
fast Jedem geläufig, während sie noch vor zwanzig Jahren selten gefunden wurden.

Der Kern des westfälischen Volkes ist gesund, die Verhältnisse sind noch natür¬
lich, der Geschmack durch Gcschrobcnhcit noch nicht verbildet; der westphälische Scharf¬
sinn ist bekannt. Es kommt nur darauf an, diesen kräftigen Boden zu bebauen.
Durch die eiserne Kette der Schienen ist Westphalen jetzt an die übrige Welt gefesselt;
es ist gezwungen, in den Weltverkehr zu treten. Seine Bequemlichkeit muß auf et¬
was Anderes gerichtet werden, als auf die bloße Erhaltung der Zustände. Wie es
für diese immer Leben und Gut aufs Spiel setzte, wie es mit bewundernswerther
Treue an dem Angestammten festhielt, so möge es, vom fortschreitenden Geiste be¬
fruchtet, auf diesen seine Treue werfen, und die Treue für die Idee wird ihm die
S — » — ympathie seiner deutschen Mitbürger wieder erwerben.




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[0438] sterlandcö an Intelligenz hervor. Ein Factum wird genügen, den geistigen Zustand dieser Letzteren aufzudecken. Es war in einem Dorfe seit einer langen Reihe von Jah¬ ren üblich gewesen, daß der Charfreitag dadurch gefeiert wurde, daß ein vierschrötiges Gemeindeglied aus ein großes Kreuz geschnallt, und in dieser Lage durch das Dorf ge¬ tragen wurde. Der Gekreuzigte mußte die Lcidcnswortc Christi der Reihenfolge nach ausrufen; bei dem „Mich dürstet!" wurde ihm ein in Branntwein eingetauchter Schwamm hingehalten, den er aufzusaugen sich bemühte. Das Volk ging andächtig hinterher. Die preußische Regierung wollte dem, während des EpiScopats aufgekom¬ menen, frommen Unwesen steuern. Es gelang ihr dies aber erst nach mehrmaligen Zusammenrottungen der Dorfbewohner, und nach mehrmaligen Attentaten ans die Fen¬ sterscheiben des Rathhauses. Die Bemühungen der preußischen Regierung für erhöhte Schulbildung können nicht genug anerkannt werden. Die Elementarkenntnisse sind jetzt fast Jedem geläufig, während sie noch vor zwanzig Jahren selten gefunden wurden. Der Kern des westfälischen Volkes ist gesund, die Verhältnisse sind noch natür¬ lich, der Geschmack durch Gcschrobcnhcit noch nicht verbildet; der westphälische Scharf¬ sinn ist bekannt. Es kommt nur darauf an, diesen kräftigen Boden zu bebauen. Durch die eiserne Kette der Schienen ist Westphalen jetzt an die übrige Welt gefesselt; es ist gezwungen, in den Weltverkehr zu treten. Seine Bequemlichkeit muß auf et¬ was Anderes gerichtet werden, als auf die bloße Erhaltung der Zustände. Wie es für diese immer Leben und Gut aufs Spiel setzte, wie es mit bewundernswerther Treue an dem Angestammten festhielt, so möge es, vom fortschreitenden Geiste be¬ fruchtet, auf diesen seine Treue werfen, und die Treue für die Idee wird ihm die S — » — ympathie seiner deutschen Mitbürger wieder erwerben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/438>, abgerufen am 05.12.2024.