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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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den vererbten kirchlichen Formen und Glaubcnsnormen nicht einverstanden, so
müssen sie sich geschickt zwischen denselben hinbewegen, um nicht geradezu zu heucheln,
sind sie es,, so stoßen sie meistens auf den Widerstand der kritischen Bildung,
welche die Gemeinden durchdrungen hat, und müssen zu künstlichen Belebungs¬
mitteln des erstorbenen Glaubenslebens ihre Zuflucht nehmen, wobei sie in Rheto¬
rik und Mimik die Grenze, welche der Kanzelberedsamkeit und den priesterlichen
Functionen zukommt, gewöhnlich überschreiten. Mit einem Wort: der Zwiespalt
zwischen den Formen des Kirchenthums und der Zeitbildung, so wie die Gegen¬
sätze in dieser selbst bringen die Geistlichen in eine unnatürliche Stellung zu ihren
Gemeinden und zwingen sie zur Dvppelscitigkeit. Wenn wir uns von dieser Be¬
hauptung aus die kirchlichen Zustände des Weimarischen und der übrigen Thürin¬
gischen Ländchen ansehen, so müssen wir freilich gestehen, daß sie sich hier bedeu¬
tend modificirt, was aber eben nicht als ein Vorzug betrachtet werden kann, da
es in einem Stillstand der Bildung seinen Grund hat. Weder die moderne an¬
thropologische Philosophie mit ihrer Tendenz, der Genesis des Dogma's auf den
Grund zu kommen und es begreifend zu überwinden, noch der moderne Pietismus
mit seinen opiumartigen Mitteln der Aufregung und Einschläferuug, diese künst¬
liche Krankheitserzengung, die als solche dem theologischen Pathologen reichen Be¬
obachtungsstoff bietet, haben in Thüringen Platz greifen können, was einestheils
wohl dem verständigen und lebensfroher Sinne des Volks, andrerseits aber der
Wirksamkeit energischer Persönlichkeiten und den Quarantäneanstalteu, die sie der
Ausbreitung der philosophischen und frommen Epidemie entgegensetzten, zuzuschrei¬
ben ist. Es herrscht hier durchschnittlich ein grundehrlicher Nationalismus -- in
der Tholuck'scheu Eintheilung heißt er littion^Il-iinus co"n"u"is -- der, genugsam
an der Kategorie des reinen und verunreinigten Christenthums festhaltend, vom
Dogma das, was der verständigen Betrachtung nicht widerspricht, gelten läßt und
fortwährend auf christlich-protestantischen Boden zu stehen glaubt. Die wissen¬
schaftlichen Bewegungen der letzten Decennien sind an der starren Genügsamkeit
dieses Nationalismus abgeprallt, und zu einer Reaction sowohl gegen die negative
Richtung als gegen den gewaltsamen Orthodoxismus fehlte Veranlassung und
Lust. Im Ganzen ist der Standpunkt der Prediger auch der der Gemeinden und
ihre Stellung zu einander eine unbefangene. Als die hervorragenden Persönlich¬
keiten, deren Wirksamkeit diese "gesunden" Zustände herbeiführte und erhielt, sind
vorzugsweise Röhr und Bretschneider zu nennen. Röhr mit seiner fertigen Ent¬
schiedenheit hat seinen Nationalismus zu dem des Weimarischen Landes gemacht.
Gegen die "Verfinsterung" wird in Stadt- und Dorfkirchen -- letztere werden
allmälig sämmtlich ausgeweißt -- fleißig gepredigt, und Katholicismus und
Pietismus sonntäglich mit den bekannten Schlagworten aufs Neue vernichtet. Frei¬
lich sind diese Feinde nur außerhalb des Landes zu treffen und werden im Grunde
wenig gefürchtet. Aber jede Richtung lebt von ihrem Gegensatze, und wenn der


den vererbten kirchlichen Formen und Glaubcnsnormen nicht einverstanden, so
müssen sie sich geschickt zwischen denselben hinbewegen, um nicht geradezu zu heucheln,
sind sie es,, so stoßen sie meistens auf den Widerstand der kritischen Bildung,
welche die Gemeinden durchdrungen hat, und müssen zu künstlichen Belebungs¬
mitteln des erstorbenen Glaubenslebens ihre Zuflucht nehmen, wobei sie in Rheto¬
rik und Mimik die Grenze, welche der Kanzelberedsamkeit und den priesterlichen
Functionen zukommt, gewöhnlich überschreiten. Mit einem Wort: der Zwiespalt
zwischen den Formen des Kirchenthums und der Zeitbildung, so wie die Gegen¬
sätze in dieser selbst bringen die Geistlichen in eine unnatürliche Stellung zu ihren
Gemeinden und zwingen sie zur Dvppelscitigkeit. Wenn wir uns von dieser Be¬
hauptung aus die kirchlichen Zustände des Weimarischen und der übrigen Thürin¬
gischen Ländchen ansehen, so müssen wir freilich gestehen, daß sie sich hier bedeu¬
tend modificirt, was aber eben nicht als ein Vorzug betrachtet werden kann, da
es in einem Stillstand der Bildung seinen Grund hat. Weder die moderne an¬
thropologische Philosophie mit ihrer Tendenz, der Genesis des Dogma's auf den
Grund zu kommen und es begreifend zu überwinden, noch der moderne Pietismus
mit seinen opiumartigen Mitteln der Aufregung und Einschläferuug, diese künst¬
liche Krankheitserzengung, die als solche dem theologischen Pathologen reichen Be¬
obachtungsstoff bietet, haben in Thüringen Platz greifen können, was einestheils
wohl dem verständigen und lebensfroher Sinne des Volks, andrerseits aber der
Wirksamkeit energischer Persönlichkeiten und den Quarantäneanstalteu, die sie der
Ausbreitung der philosophischen und frommen Epidemie entgegensetzten, zuzuschrei¬
ben ist. Es herrscht hier durchschnittlich ein grundehrlicher Nationalismus — in
der Tholuck'scheu Eintheilung heißt er littion^Il-iinus co»n»u»is — der, genugsam
an der Kategorie des reinen und verunreinigten Christenthums festhaltend, vom
Dogma das, was der verständigen Betrachtung nicht widerspricht, gelten läßt und
fortwährend auf christlich-protestantischen Boden zu stehen glaubt. Die wissen¬
schaftlichen Bewegungen der letzten Decennien sind an der starren Genügsamkeit
dieses Nationalismus abgeprallt, und zu einer Reaction sowohl gegen die negative
Richtung als gegen den gewaltsamen Orthodoxismus fehlte Veranlassung und
Lust. Im Ganzen ist der Standpunkt der Prediger auch der der Gemeinden und
ihre Stellung zu einander eine unbefangene. Als die hervorragenden Persönlich¬
keiten, deren Wirksamkeit diese „gesunden" Zustände herbeiführte und erhielt, sind
vorzugsweise Röhr und Bretschneider zu nennen. Röhr mit seiner fertigen Ent¬
schiedenheit hat seinen Nationalismus zu dem des Weimarischen Landes gemacht.
Gegen die „Verfinsterung" wird in Stadt- und Dorfkirchen — letztere werden
allmälig sämmtlich ausgeweißt — fleißig gepredigt, und Katholicismus und
Pietismus sonntäglich mit den bekannten Schlagworten aufs Neue vernichtet. Frei¬
lich sind diese Feinde nur außerhalb des Landes zu treffen und werden im Grunde
wenig gefürchtet. Aber jede Richtung lebt von ihrem Gegensatze, und wenn der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/336>, abgerufen am 25.08.2024.