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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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Der ist befreit
Bon allem Streit. --

ist noch immer die Grundlage des modernen Idealismus.

Sehen wir- nnn, wie Humboldt's Wert sich zu jenen Spekulationen des reinen
Gedankens verhält.

Es ist ein altes Vorurtheil, die Naturphilosophie sei der Naturwissenschaft
entgegengesetzt, wie das sogenannte Naturrecht der Jurisprudenz. Die Natur¬
forscher sehen achselzuckend ans die abstracten Speculationen ihrer Nebenbuhler
herab, die sie für nicht viel mehr halten, als für willkürliche Einfälle; die Philo¬
sophie spottet über den Kram von endlichen, empirischen Gesetzen, in denen sie
keinen Sinn und keinen Geist wahrnimmt. Das ist ein unrichtiges, naturwidriges
Verhältniß. Wenn die Spekulation der wahren Empirie widerspricht, so ist das
ein sicheres Zeichen, daß sie falsch ist, und wenn sich die Empirie dem Gedanken
entzieht, so kann sie sicher sein, nichts zu finden; die ideenlose Empirie verliert
sich im Reich der Zufälligkeit. Humboldt beherrscht nicht nur das Gesammtgebiet
der Naturwissenschaft, er ist auch ein tiefer Kenner der Philosophie. Seine Me¬
thode, die rein realistisch ist, wird uns zugleich den Gedanken, wie er sich in die
Natur zu versenken hat, versinnlichen.

Von der Natur kauu mau, sobald man jene Spinozistische Idee von dem blos
subjectiven Werth der Zeit aus den Angen läßt, sagen, sie sei niemals, sie
werde mir. Denn in dem furchtbar schwindelnden Umschwung der Sphäre ist
kein Haltpunkt; unsere Erde, auf der wir früher fest zu stehen glaubte", hat die
Wissenschaft als ein untergeordnetes Rad eines im Himmel selbst höchst unterge¬
ordneten Räderwerks erkannt. Die Sonne, auf der man alsdann festen Boden zu
gewinnen glaubte, dreht sich um eine mächtigere Sphäre, und auch die sogenannte
Centralsonne scheint nach der Entdeckung der um einander rotirenden Doppelsterne
keine Nothwendigkeit mehr. Aber es gibt doch Einen Haltpunkt in diesem Wirbel
der unendlichen Bewegung, das Gesetz der Bewegung selbst.

Auch das Bewußtsein dieses Gesetzes ist u"r im Werden, im Suchen und
Forschen des menschlichen Geistes. So zerfällt natürlich die Betrachtung des
Kosmos in zwei Theile: die Darstellung des Gesetzes als eines Seienden, und
die Entwickelung, wie sie in dem allmäligen Fortschritt der Wissenschaft vor sich
gegangen ist.

Der erste Theil führt uns zunächst in die entlegensten Sternregioucn, denn
je ferner von "uns, desto reiner drückt sich das einfache, blos mechanische Gesetz
der Bewegung ans, desto weniger mischt sich die Idee des Stofflichen hinein.
Durch den Begriff der Lichtbewegnng, die zeitlich abzumessen ist, finden wir, daß
der Aublick des gestirnten Himmels keineswegs den wirklichen, gegenwärtigen Zu-
sland des Himmels ausdrückt, daß ein Stern vielleicht schon untergegangen ist,
wenn sein Licht unser Auge trifft. Von dem Universum, dessen Gesetze wir nur


Der ist befreit
Bon allem Streit. —

ist noch immer die Grundlage des modernen Idealismus.

Sehen wir- nnn, wie Humboldt's Wert sich zu jenen Spekulationen des reinen
Gedankens verhält.

Es ist ein altes Vorurtheil, die Naturphilosophie sei der Naturwissenschaft
entgegengesetzt, wie das sogenannte Naturrecht der Jurisprudenz. Die Natur¬
forscher sehen achselzuckend ans die abstracten Speculationen ihrer Nebenbuhler
herab, die sie für nicht viel mehr halten, als für willkürliche Einfälle; die Philo¬
sophie spottet über den Kram von endlichen, empirischen Gesetzen, in denen sie
keinen Sinn und keinen Geist wahrnimmt. Das ist ein unrichtiges, naturwidriges
Verhältniß. Wenn die Spekulation der wahren Empirie widerspricht, so ist das
ein sicheres Zeichen, daß sie falsch ist, und wenn sich die Empirie dem Gedanken
entzieht, so kann sie sicher sein, nichts zu finden; die ideenlose Empirie verliert
sich im Reich der Zufälligkeit. Humboldt beherrscht nicht nur das Gesammtgebiet
der Naturwissenschaft, er ist auch ein tiefer Kenner der Philosophie. Seine Me¬
thode, die rein realistisch ist, wird uns zugleich den Gedanken, wie er sich in die
Natur zu versenken hat, versinnlichen.

Von der Natur kauu mau, sobald man jene Spinozistische Idee von dem blos
subjectiven Werth der Zeit aus den Angen läßt, sagen, sie sei niemals, sie
werde mir. Denn in dem furchtbar schwindelnden Umschwung der Sphäre ist
kein Haltpunkt; unsere Erde, auf der wir früher fest zu stehen glaubte», hat die
Wissenschaft als ein untergeordnetes Rad eines im Himmel selbst höchst unterge¬
ordneten Räderwerks erkannt. Die Sonne, auf der man alsdann festen Boden zu
gewinnen glaubte, dreht sich um eine mächtigere Sphäre, und auch die sogenannte
Centralsonne scheint nach der Entdeckung der um einander rotirenden Doppelsterne
keine Nothwendigkeit mehr. Aber es gibt doch Einen Haltpunkt in diesem Wirbel
der unendlichen Bewegung, das Gesetz der Bewegung selbst.

Auch das Bewußtsein dieses Gesetzes ist u»r im Werden, im Suchen und
Forschen des menschlichen Geistes. So zerfällt natürlich die Betrachtung des
Kosmos in zwei Theile: die Darstellung des Gesetzes als eines Seienden, und
die Entwickelung, wie sie in dem allmäligen Fortschritt der Wissenschaft vor sich
gegangen ist.

Der erste Theil führt uns zunächst in die entlegensten Sternregioucn, denn
je ferner von "uns, desto reiner drückt sich das einfache, blos mechanische Gesetz
der Bewegung ans, desto weniger mischt sich die Idee des Stofflichen hinein.
Durch den Begriff der Lichtbewegnng, die zeitlich abzumessen ist, finden wir, daß
der Aublick des gestirnten Himmels keineswegs den wirklichen, gegenwärtigen Zu-
sland des Himmels ausdrückt, daß ein Stern vielleicht schon untergegangen ist,
wenn sein Licht unser Auge trifft. Von dem Universum, dessen Gesetze wir nur


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[0326] Der ist befreit Bon allem Streit. — ist noch immer die Grundlage des modernen Idealismus. Sehen wir- nnn, wie Humboldt's Wert sich zu jenen Spekulationen des reinen Gedankens verhält. Es ist ein altes Vorurtheil, die Naturphilosophie sei der Naturwissenschaft entgegengesetzt, wie das sogenannte Naturrecht der Jurisprudenz. Die Natur¬ forscher sehen achselzuckend ans die abstracten Speculationen ihrer Nebenbuhler herab, die sie für nicht viel mehr halten, als für willkürliche Einfälle; die Philo¬ sophie spottet über den Kram von endlichen, empirischen Gesetzen, in denen sie keinen Sinn und keinen Geist wahrnimmt. Das ist ein unrichtiges, naturwidriges Verhältniß. Wenn die Spekulation der wahren Empirie widerspricht, so ist das ein sicheres Zeichen, daß sie falsch ist, und wenn sich die Empirie dem Gedanken entzieht, so kann sie sicher sein, nichts zu finden; die ideenlose Empirie verliert sich im Reich der Zufälligkeit. Humboldt beherrscht nicht nur das Gesammtgebiet der Naturwissenschaft, er ist auch ein tiefer Kenner der Philosophie. Seine Me¬ thode, die rein realistisch ist, wird uns zugleich den Gedanken, wie er sich in die Natur zu versenken hat, versinnlichen. Von der Natur kauu mau, sobald man jene Spinozistische Idee von dem blos subjectiven Werth der Zeit aus den Angen läßt, sagen, sie sei niemals, sie werde mir. Denn in dem furchtbar schwindelnden Umschwung der Sphäre ist kein Haltpunkt; unsere Erde, auf der wir früher fest zu stehen glaubte», hat die Wissenschaft als ein untergeordnetes Rad eines im Himmel selbst höchst unterge¬ ordneten Räderwerks erkannt. Die Sonne, auf der man alsdann festen Boden zu gewinnen glaubte, dreht sich um eine mächtigere Sphäre, und auch die sogenannte Centralsonne scheint nach der Entdeckung der um einander rotirenden Doppelsterne keine Nothwendigkeit mehr. Aber es gibt doch Einen Haltpunkt in diesem Wirbel der unendlichen Bewegung, das Gesetz der Bewegung selbst. Auch das Bewußtsein dieses Gesetzes ist u»r im Werden, im Suchen und Forschen des menschlichen Geistes. So zerfällt natürlich die Betrachtung des Kosmos in zwei Theile: die Darstellung des Gesetzes als eines Seienden, und die Entwickelung, wie sie in dem allmäligen Fortschritt der Wissenschaft vor sich gegangen ist. Der erste Theil führt uns zunächst in die entlegensten Sternregioucn, denn je ferner von "uns, desto reiner drückt sich das einfache, blos mechanische Gesetz der Bewegung ans, desto weniger mischt sich die Idee des Stofflichen hinein. Durch den Begriff der Lichtbewegnng, die zeitlich abzumessen ist, finden wir, daß der Aublick des gestirnten Himmels keineswegs den wirklichen, gegenwärtigen Zu- sland des Himmels ausdrückt, daß ein Stern vielleicht schon untergegangen ist, wenn sein Licht unser Auge trifft. Von dem Universum, dessen Gesetze wir nur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/326>, abgerufen am 25.08.2024.