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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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Blätter sterbenstraurigc Geschichten, wenn ein linder West darin zu spielen scheint?
Die Dichter wissen es zu deuten, und anch das Volk versteht es. Vor allen ha¬
ben es jene minder zähen und minder beweglichen Litthauer, deren Land und
Elend an Polens Land und Elend so nahe grenzt, der Birke abgelauscht, was sie
verkünden will. Darum Mugt auch in ihren morschen Hütten und ans dein
Schlamme roher Stumpfheit ihrer Herzen seit Jahrhunderten der Sang:

Birke, Birke, arme Birke!
Warum bist du denn so traurig'!
War's vielleicht der kalte Nordsturm,
War's vielleicht der rauhe Frost,
Der dir macht die Blätter starren?
Oder hat das böse Wasser
Dir der Erdenmuttcr Schutz
Bon den Wurzeln weggespült?

Und der todtmtraurigeu Frage antwortet klagend die Gegcnstrophe:

Nicht der Frost macht mich erstarren,
Nicht das Wasser mich verkümmern;
Doch es kamen die Barbaren
Und sie brachen meine Aeste
Und zertraten um mich her
Schönes grünes Gras.
Schade, schade, daß vom Osten
Auch die schöne Sonne kommt!

Dies Lied verfolgt den Wanderer dnrch ganz Litthauen. Er kann die schau¬
rigen Klänge nicht wieder aus dein Sinne bringen, so lange er in den ehemals
selbstständigen Landen lebt, die nunmehr den Namen russischer Gouvernements
tragen -- in den baltischen Provinzen, in Litthauen, in Polen. Jeder Tag, jede
Stunde, jeder Umblick, jede Begegnung trägt uus von Neuem die Worte zu lind
dazwischen tont wohl auch aus Deutschland herüber der Nachhall eines Heine'schen
Liedes, wie eine Frage an das Weltgeschick: Sonne, Du klagende Flamme?"

Wen eine leichte, graciöse Darstellung, verbunden mit großer Empfänglich¬
keit für das Fremdartige und doch warmem Gefühl für's Vaterland zu fesseln im
Stande sind, der wird dieses Buch nicht unbefriedigt aus der Hand legen.


3. 'Aöfken.

Derselbe patriotische Sinn zeichnet ein anderes Werk aus: Vtämisch-Bel-
gien, von G use. Höslen (2 Bde. Bremen, Schlodtmann). Wir haben in einer
frühern Nummer eine andere Schrift desselben Verfassers, über England, nach Ge¬
bühr rühmend erwähnt; wir haben aber anch schon da angedeutet, wie der Patrio¬
tismus mitunter zu etwas kühnen Behauptungen geführt hat, namentlich in der
Scheidung der sprachlichen Elemente und der sich daran knüpfenden Literaturen.
Es scheint, als ob die anerkennenswerthe Liebe zu Deutschland und die nicht so
ganz zu billigende Abneigung gegen Frankreich in dieser neuen Schrift etwas zu
G


miMen. IV. 1Si7. ^

Blätter sterbenstraurigc Geschichten, wenn ein linder West darin zu spielen scheint?
Die Dichter wissen es zu deuten, und anch das Volk versteht es. Vor allen ha¬
ben es jene minder zähen und minder beweglichen Litthauer, deren Land und
Elend an Polens Land und Elend so nahe grenzt, der Birke abgelauscht, was sie
verkünden will. Darum Mugt auch in ihren morschen Hütten und ans dein
Schlamme roher Stumpfheit ihrer Herzen seit Jahrhunderten der Sang:

Birke, Birke, arme Birke!
Warum bist du denn so traurig'!
War's vielleicht der kalte Nordsturm,
War's vielleicht der rauhe Frost,
Der dir macht die Blätter starren?
Oder hat das böse Wasser
Dir der Erdenmuttcr Schutz
Bon den Wurzeln weggespült?

Und der todtmtraurigeu Frage antwortet klagend die Gegcnstrophe:

Nicht der Frost macht mich erstarren,
Nicht das Wasser mich verkümmern;
Doch es kamen die Barbaren
Und sie brachen meine Aeste
Und zertraten um mich her
Schönes grünes Gras.
Schade, schade, daß vom Osten
Auch die schöne Sonne kommt!

Dies Lied verfolgt den Wanderer dnrch ganz Litthauen. Er kann die schau¬
rigen Klänge nicht wieder aus dein Sinne bringen, so lange er in den ehemals
selbstständigen Landen lebt, die nunmehr den Namen russischer Gouvernements
tragen — in den baltischen Provinzen, in Litthauen, in Polen. Jeder Tag, jede
Stunde, jeder Umblick, jede Begegnung trägt uus von Neuem die Worte zu lind
dazwischen tont wohl auch aus Deutschland herüber der Nachhall eines Heine'schen
Liedes, wie eine Frage an das Weltgeschick: Sonne, Du klagende Flamme?"

Wen eine leichte, graciöse Darstellung, verbunden mit großer Empfänglich¬
keit für das Fremdartige und doch warmem Gefühl für's Vaterland zu fesseln im
Stande sind, der wird dieses Buch nicht unbefriedigt aus der Hand legen.


3. 'Aöfken.

Derselbe patriotische Sinn zeichnet ein anderes Werk aus: Vtämisch-Bel-
gien, von G use. Höslen (2 Bde. Bremen, Schlodtmann). Wir haben in einer
frühern Nummer eine andere Schrift desselben Verfassers, über England, nach Ge¬
bühr rühmend erwähnt; wir haben aber anch schon da angedeutet, wie der Patrio¬
tismus mitunter zu etwas kühnen Behauptungen geführt hat, namentlich in der
Scheidung der sprachlichen Elemente und der sich daran knüpfenden Literaturen.
Es scheint, als ob die anerkennenswerthe Liebe zu Deutschland und die nicht so
ganz zu billigende Abneigung gegen Frankreich in dieser neuen Schrift etwas zu
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[0297] Blätter sterbenstraurigc Geschichten, wenn ein linder West darin zu spielen scheint? Die Dichter wissen es zu deuten, und anch das Volk versteht es. Vor allen ha¬ ben es jene minder zähen und minder beweglichen Litthauer, deren Land und Elend an Polens Land und Elend so nahe grenzt, der Birke abgelauscht, was sie verkünden will. Darum Mugt auch in ihren morschen Hütten und ans dein Schlamme roher Stumpfheit ihrer Herzen seit Jahrhunderten der Sang: Birke, Birke, arme Birke! Warum bist du denn so traurig'! War's vielleicht der kalte Nordsturm, War's vielleicht der rauhe Frost, Der dir macht die Blätter starren? Oder hat das böse Wasser Dir der Erdenmuttcr Schutz Bon den Wurzeln weggespült? Und der todtmtraurigeu Frage antwortet klagend die Gegcnstrophe: Nicht der Frost macht mich erstarren, Nicht das Wasser mich verkümmern; Doch es kamen die Barbaren Und sie brachen meine Aeste Und zertraten um mich her Schönes grünes Gras. Schade, schade, daß vom Osten Auch die schöne Sonne kommt! Dies Lied verfolgt den Wanderer dnrch ganz Litthauen. Er kann die schau¬ rigen Klänge nicht wieder aus dein Sinne bringen, so lange er in den ehemals selbstständigen Landen lebt, die nunmehr den Namen russischer Gouvernements tragen — in den baltischen Provinzen, in Litthauen, in Polen. Jeder Tag, jede Stunde, jeder Umblick, jede Begegnung trägt uus von Neuem die Worte zu lind dazwischen tont wohl auch aus Deutschland herüber der Nachhall eines Heine'schen Liedes, wie eine Frage an das Weltgeschick: Sonne, Du klagende Flamme?" Wen eine leichte, graciöse Darstellung, verbunden mit großer Empfänglich¬ keit für das Fremdartige und doch warmem Gefühl für's Vaterland zu fesseln im Stande sind, der wird dieses Buch nicht unbefriedigt aus der Hand legen. 3. 'Aöfken. Derselbe patriotische Sinn zeichnet ein anderes Werk aus: Vtämisch-Bel- gien, von G use. Höslen (2 Bde. Bremen, Schlodtmann). Wir haben in einer frühern Nummer eine andere Schrift desselben Verfassers, über England, nach Ge¬ bühr rühmend erwähnt; wir haben aber anch schon da angedeutet, wie der Patrio¬ tismus mitunter zu etwas kühnen Behauptungen geführt hat, namentlich in der Scheidung der sprachlichen Elemente und der sich daran knüpfenden Literaturen. Es scheint, als ob die anerkennenswerthe Liebe zu Deutschland und die nicht so ganz zu billigende Abneigung gegen Frankreich in dieser neuen Schrift etwas zu G miMen. IV. 1Si7. ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/297>, abgerufen am 22.07.2024.