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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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neben die frischen Schinken aufhing, um die Andacht auch sinnlich zu wecken; der
wenigstens in seinen Schriften mit künstlicher Empfindsamkeit an den Leichen frisch
Gestorbener ausdauerte, um sich lebhaft mit den Schrecken der menschlichen Nich¬
tigkeit zu erfüllen. Auch Zacharias Werner, selbst Hoffmann, zeigen ähnliche An¬
lagen. In diesem Sinne hatte der Pietismus stets seine Vertreter in Königsberg,
weil er diejenige Form ist, in welcher der Geist am Zwanglosesten in der Ver¬
kehrtheit seines Innern wühlen kann. Noch in der neuesten Zeit -- eS sind kaum
zehn Jahre her -- gab Königsberg der Welt das unästhetische Beispiel, bis zu
welchen Extremen diese Versenkung in die abstracte Innerlichkeit führen kann.
Ein naturphilosophischer Autodidakt, Johann Schönherr, hatte sich, erfüllt von der
Idee des animalischen Lebens, ans biblischen Brocken ein System vom Ursprung
der Welt ausgedacht, in welchem die Schöpfung zu einem Zeugungsproecß ver¬
wandelt war. Diese Lehre ging nach seinem Tode an eine Gemeinde von Aus-
erwählten über, an deren Spitze zwei Prediger standen, nud die im Uebrigen
theils ans Gliedern unsers höchsten Adels, theils wieder ans den niedrigsten
Volksklassen zusammengesetzt war: eine Gemeinde, in welcher die Inbrunst reli¬
giöser Andacht zu eiuer physischen und zwar sexuellen Exaltation gesteigert wurde.
Den Orthodoxen bleibt der Ruhm, zuerst deu Schleier vou deu Jrrgängen dieses
praktischen Mysticismus gelüftet zu haben; obgleich auch bei ihnen wenigstens
theoretisch das physische Element eine große Rolle spielte, wie ich denn Gelegen¬
heit hatte, von einem der gefeiertsten Vorkämpfer dieser theologischen Richtung
den gründlichen Beweis zu hören, daß die Wiedergeburt nicht nur geistig, soli¬
dem auch leiblich zu verstehen sei. Es kommt vielleicht diese Erscheinung
zum Theil daher, daß unsre Landsleute spröde und verschlossen sind gegen die
Objektivität, und ein sehr reich entwickeltes innerliches Leben führen, das im
Gebiet der Theorie wohl zu einer Fülle überraschender Apercus, aber selten zu
einer wirklichen Klarheit führt.

Ein Bild dieser eigenthümlich subjectiven Richtung im Denken und Fühlen,
aber allerdings im besten Sinne, ist derjenige Mann, auf den bei unserer reli¬
giösen Umgestaltung der größere Theil derer, die sich überhaupt für Religion in-
teresstren, den neuen Propheten zu entdecken glaubten, ich meine natürlich I)o. Rupp.,
Die Eigenthümlichkeit seines wissenschaftlichen Strebens ist die, daß er mit un¬
glaublicher Vielseitigkeit uach deu entlegensten Gebieten des Wissens hinübergreife,
und überall uach dem Anomalen, Irrationalen sucht, nach dem, was nicht auf
der Hand liegt. Aehnlich, wenn er es mit einem bestimmten Gegenstand zu thun
hat, wo er dann uach den verschiedenartigsten Gesichtspunkten sucht, weniger um
der Sache auf den Grund zu kommeu, als sich an dein seltsamen Spiel der wech¬
selnden Erscheinung zu erfreuen. Er würde daher nie mit einem größern wissen¬
schaftlichen Werke zu Stande kommen, weil er nie methodisch mit einem bestimmten
Zweck verfährt, sondern je nach dem individuellen Reiz einer besondern Stimmung.


neben die frischen Schinken aufhing, um die Andacht auch sinnlich zu wecken; der
wenigstens in seinen Schriften mit künstlicher Empfindsamkeit an den Leichen frisch
Gestorbener ausdauerte, um sich lebhaft mit den Schrecken der menschlichen Nich¬
tigkeit zu erfüllen. Auch Zacharias Werner, selbst Hoffmann, zeigen ähnliche An¬
lagen. In diesem Sinne hatte der Pietismus stets seine Vertreter in Königsberg,
weil er diejenige Form ist, in welcher der Geist am Zwanglosesten in der Ver¬
kehrtheit seines Innern wühlen kann. Noch in der neuesten Zeit — eS sind kaum
zehn Jahre her — gab Königsberg der Welt das unästhetische Beispiel, bis zu
welchen Extremen diese Versenkung in die abstracte Innerlichkeit führen kann.
Ein naturphilosophischer Autodidakt, Johann Schönherr, hatte sich, erfüllt von der
Idee des animalischen Lebens, ans biblischen Brocken ein System vom Ursprung
der Welt ausgedacht, in welchem die Schöpfung zu einem Zeugungsproecß ver¬
wandelt war. Diese Lehre ging nach seinem Tode an eine Gemeinde von Aus-
erwählten über, an deren Spitze zwei Prediger standen, nud die im Uebrigen
theils ans Gliedern unsers höchsten Adels, theils wieder ans den niedrigsten
Volksklassen zusammengesetzt war: eine Gemeinde, in welcher die Inbrunst reli¬
giöser Andacht zu eiuer physischen und zwar sexuellen Exaltation gesteigert wurde.
Den Orthodoxen bleibt der Ruhm, zuerst deu Schleier vou deu Jrrgängen dieses
praktischen Mysticismus gelüftet zu haben; obgleich auch bei ihnen wenigstens
theoretisch das physische Element eine große Rolle spielte, wie ich denn Gelegen¬
heit hatte, von einem der gefeiertsten Vorkämpfer dieser theologischen Richtung
den gründlichen Beweis zu hören, daß die Wiedergeburt nicht nur geistig, soli¬
dem auch leiblich zu verstehen sei. Es kommt vielleicht diese Erscheinung
zum Theil daher, daß unsre Landsleute spröde und verschlossen sind gegen die
Objektivität, und ein sehr reich entwickeltes innerliches Leben führen, das im
Gebiet der Theorie wohl zu einer Fülle überraschender Apercus, aber selten zu
einer wirklichen Klarheit führt.

Ein Bild dieser eigenthümlich subjectiven Richtung im Denken und Fühlen,
aber allerdings im besten Sinne, ist derjenige Mann, auf den bei unserer reli¬
giösen Umgestaltung der größere Theil derer, die sich überhaupt für Religion in-
teresstren, den neuen Propheten zu entdecken glaubten, ich meine natürlich I)o. Rupp.,
Die Eigenthümlichkeit seines wissenschaftlichen Strebens ist die, daß er mit un¬
glaublicher Vielseitigkeit uach deu entlegensten Gebieten des Wissens hinübergreife,
und überall uach dem Anomalen, Irrationalen sucht, nach dem, was nicht auf
der Hand liegt. Aehnlich, wenn er es mit einem bestimmten Gegenstand zu thun
hat, wo er dann uach den verschiedenartigsten Gesichtspunkten sucht, weniger um
der Sache auf den Grund zu kommeu, als sich an dein seltsamen Spiel der wech¬
selnden Erscheinung zu erfreuen. Er würde daher nie mit einem größern wissen¬
schaftlichen Werke zu Stande kommen, weil er nie methodisch mit einem bestimmten
Zweck verfährt, sondern je nach dem individuellen Reiz einer besondern Stimmung.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/23>, abgerufen am 05.12.2024.