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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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schichte verläuft in eine Reihe von CurioMten, die man zwar mit einer gewis¬
sen Neugierde ansteht, für die das Herz aber nichts empfindet. Man wende da¬
gegen nicht ein, daß ja eine rein historische Darstellung, auch der entlegensten Ver¬
gangenheit, sobald sie plastisch ist, das lebendige Interesse eben so gut erregt, als
ein nahe liegendes Ereignis). Es ist dort das Bewußtsein objectiver Wahrheit,
das uns fesselt, die wir anch bei der vollendetsten Kunst in einer dichterischen
Fiction nicht suchen werden. Das Gesetz der poetischen Phantasie wollen wir an
der unmittelbaren Anschauung prüfen, nicht an dem kritischen Maaß der Gelehr¬
samkeit. Bei jeder Erscheinung, die uns hier entgegentritt, denken wir erst: wie
stimmt das mit Gibbon? oder was für ein Historiker uns sonst geläufig ist. Denn
sür diese barbarischen Züge haben wir kein unmittelbares Verständniß. Es läßt
sich noch eher ertragen, wenn Gutzkow uns die psychologische Entwickelung eines
Dalai Lama vorführt, denn hier sind stagnirende Zustände, und das Seltsame soll
sich wenigstens durch seinen eignen innern Zusammenhang rechtfertigen; aber die
Bewegungen der Völkerwanderung laufen zu sehr in einander, als daß wir irgend
eine Episode daraus ablösen, irgend eine zu einem vereinzelten Verständniß
führen könnten.

Ein zweiter mißlicher Umstand ist die Wahl des Haupthelden. "Zuchtruthe
Gottes, Beben der Welt!" Diese Beschreibung Attila's hat der Verfasser selbst
auf den Titel als Motto gesetzt. Attila gehört einem Volke an, das ziemlich von
der Erde verschwunden ist, das aber die Zeitgenossen nicht fürchterlich und un¬
menschlich genng schildern können. Er stand ferner auf jener schwindelnden Höhe
der Macht, wo die reine, widerstandlose Willkür am Ende auf das Widerfinnigste
gerathen muß, um nur die Grenze ihrer Möglichkeit zu erproben. Eine solche
Figur kann höchstens als dunkler, romantischer Hintergrund eines Gemäldes be¬
nutzt werden, aber nicht als Mittelpunkt. Auch tragen die Motive, durch welche
die übrigen Charaktere bewegt werden , nichts dazu bei, das Fremdartige eines
solchen Schnnspiels aufzuheben; die Heldin, Jldico, ist die Tochter eines Hunni¬
schen Fürsten und einer Römerin; die letztere ist von ihrem Gemahl ans Ueber¬
druß erschlagen; Jldico haßt ihren Vater. Ein gothischer Fürst liebt sie und ist
mit ihr versprochen; aber ihr Herz ist kalt, und als der mächtige Attila um sie
wirbt, lockt sie der Ehrgeiz und sie verläßt ihren Bräutigam. Nun aber verliebt
sie sich in einen andern Gothen; dieser ist ein fanatischer Christ und benutzt ihre
Liebe -- die er übrigens theilt -- dazu, sie zur Rache an den Feinden Gottes
zu erziehen. Sie muß Attila, der sich gegen sie stets freundlich und human be¬
nommen hat, in der Brautnacht ermorden, weil er ein Heide ist. -- Was sind
das alles für Motive! Und dazwischen die gebührende Anzahl Nornen, Hexen,
Verschworue, Krenzesbrüder u. dergl., das alles ist eine absolut verkehrte Welt,
die nur dann unser Interresse erregt, wenn sie mit dem äußern Gepräge der ob¬
jectiven Wahrheit bezeichnet ist.


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schichte verläuft in eine Reihe von CurioMten, die man zwar mit einer gewis¬
sen Neugierde ansteht, für die das Herz aber nichts empfindet. Man wende da¬
gegen nicht ein, daß ja eine rein historische Darstellung, auch der entlegensten Ver¬
gangenheit, sobald sie plastisch ist, das lebendige Interesse eben so gut erregt, als
ein nahe liegendes Ereignis). Es ist dort das Bewußtsein objectiver Wahrheit,
das uns fesselt, die wir anch bei der vollendetsten Kunst in einer dichterischen
Fiction nicht suchen werden. Das Gesetz der poetischen Phantasie wollen wir an
der unmittelbaren Anschauung prüfen, nicht an dem kritischen Maaß der Gelehr¬
samkeit. Bei jeder Erscheinung, die uns hier entgegentritt, denken wir erst: wie
stimmt das mit Gibbon? oder was für ein Historiker uns sonst geläufig ist. Denn
sür diese barbarischen Züge haben wir kein unmittelbares Verständniß. Es läßt
sich noch eher ertragen, wenn Gutzkow uns die psychologische Entwickelung eines
Dalai Lama vorführt, denn hier sind stagnirende Zustände, und das Seltsame soll
sich wenigstens durch seinen eignen innern Zusammenhang rechtfertigen; aber die
Bewegungen der Völkerwanderung laufen zu sehr in einander, als daß wir irgend
eine Episode daraus ablösen, irgend eine zu einem vereinzelten Verständniß
führen könnten.

Ein zweiter mißlicher Umstand ist die Wahl des Haupthelden. „Zuchtruthe
Gottes, Beben der Welt!" Diese Beschreibung Attila's hat der Verfasser selbst
auf den Titel als Motto gesetzt. Attila gehört einem Volke an, das ziemlich von
der Erde verschwunden ist, das aber die Zeitgenossen nicht fürchterlich und un¬
menschlich genng schildern können. Er stand ferner auf jener schwindelnden Höhe
der Macht, wo die reine, widerstandlose Willkür am Ende auf das Widerfinnigste
gerathen muß, um nur die Grenze ihrer Möglichkeit zu erproben. Eine solche
Figur kann höchstens als dunkler, romantischer Hintergrund eines Gemäldes be¬
nutzt werden, aber nicht als Mittelpunkt. Auch tragen die Motive, durch welche
die übrigen Charaktere bewegt werden , nichts dazu bei, das Fremdartige eines
solchen Schnnspiels aufzuheben; die Heldin, Jldico, ist die Tochter eines Hunni¬
schen Fürsten und einer Römerin; die letztere ist von ihrem Gemahl ans Ueber¬
druß erschlagen; Jldico haßt ihren Vater. Ein gothischer Fürst liebt sie und ist
mit ihr versprochen; aber ihr Herz ist kalt, und als der mächtige Attila um sie
wirbt, lockt sie der Ehrgeiz und sie verläßt ihren Bräutigam. Nun aber verliebt
sie sich in einen andern Gothen; dieser ist ein fanatischer Christ und benutzt ihre
Liebe — die er übrigens theilt — dazu, sie zur Rache an den Feinden Gottes
zu erziehen. Sie muß Attila, der sich gegen sie stets freundlich und human be¬
nommen hat, in der Brautnacht ermorden, weil er ein Heide ist. — Was sind
das alles für Motive! Und dazwischen die gebührende Anzahl Nornen, Hexen,
Verschworue, Krenzesbrüder u. dergl., das alles ist eine absolut verkehrte Welt,
die nur dann unser Interresse erregt, wenn sie mit dem äußern Gepräge der ob¬
jectiven Wahrheit bezeichnet ist.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/219>, abgerufen am 22.07.2024.