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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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gie seliger Burschenschaft noch übertrifft, und wenn diese Sprache das ganze Buch
hindurch in ununterbrochener Folge abgesponnen wird?

Wilhelm und Therese sind verlobt; Therese wird im Stillen von Hermann
geliebt; Wilhelm steht Hedwig, eine Amazone, die jene begeisternden Worte aus-
sprach, verliebt sich in sie und wird Li'chower Jäger; Hedwig wird gleichfalls
Li'chower Jäger, und hat Mühe, sich der Liebe Wilhelm's zu entziehen; sie ist in
Theodor Körner verliebt, mehr in den Dichter als in den Menschen; Theodor
Körner ist das Ideal der Menschheit, der Weise und Prophet, der alles Gewöhn¬
liche in seiner erhabenen Seele überwunden hat. Er wird erschossen, die ver¬
zweifelte Hedwig gleichfalls, der verzweifelte Wilhelm gleichfalls, der treue Her¬
mann heirathet Theresen.

Wie sich erwarten läßt, herrscht neben dem Pathos eine unendliche Sentimen¬
talität. Zwar kommen hin und wieder auch humoristische Anklänge vor, aber sie
verhallen in dem allgemeinen Rythmus der patriotischen Begeisterung, "I^int
vires, onem e"t luuclimili", vvlmttus! ....

In einer zweiten Novelle: Attila (? Bde.), werden wir dagegen in die
graue Urzeit versetzt. Es ist ein Glied eines größern Cyclus: Geschichten
des Ostens, von Josef Martin. (Pesth, 1847. G. Heckenast.)

Ich glaube, es ist Fr. Souliv, der einen ähnlichen barbarischen Stoff, die
Geschichte des Westgothischen Königs Enrich, in einem Roman behandelt hat.
Dieses Buch oder ein ähnliches scheint dem Verfasser vorgeschwebt zu haben, we¬
nigstens ist die neufranzösische Manier unverkennbar, nicht allein in der ganzen
Art der Erzählung und Charakteristik, sondern selbst in der äußerlichen Form
der kurzen, ohne Berbindung aneinandergereihten Sätze. Wer erinnert sich nicht
an die Redeweise Engen Sue's und seiner Nachahmer, wenn ihm auf jeder Seite
einige Dutzend Absätze ausstoßen. Der Name Martin klingt übrigens selbst fran¬
zösisch. Doch können wir nicht annehmen, daß die ehrenwerthe Buchhandlung
eine Uebersetzung auf dem Titel anzugeben unterlassen werde!

Was die Kunst der Schilderung betrifft, so hat Joseph Martin die Franzosen
nicht ohne Erfolg gelesen. Einzelne Partien find' mit der höchsten Lebendigkeit und
Anschaulichkeit dargestellt, und die Handlung schreitet in beständiger Steigerung
fort. Es ist ferner wenigstens das Streben sichtbar, nicht nur der einzelnen
Person einen bestimmten Charakter zu leihen, sondern anch die Sitte und Welt¬
anschauung der Zeit, ja die locale und nationale Farbe hineinspielen zu lassen.
Aber die Wahl des Gegenstandes ist nicht eine glückliche zu nennen. Zu der
Huunenzeit und ihrer Weltanschauung hat die Gegenwart gar keine Beziehung,
die Erscheinungen derselben können nur durch ihren Contrast frappiren. Die Dar¬
stellung einer historischen Periode, die außer allem Verhältniß zu der unsrigen
steht, scheitert nothwendig an einer von zwei Klippen: entweder wird die moderne
Anschauung hineingelegt, und dadurch die Zeit corrumpirt, oder die ganze Ge-


gie seliger Burschenschaft noch übertrifft, und wenn diese Sprache das ganze Buch
hindurch in ununterbrochener Folge abgesponnen wird?

Wilhelm und Therese sind verlobt; Therese wird im Stillen von Hermann
geliebt; Wilhelm steht Hedwig, eine Amazone, die jene begeisternden Worte aus-
sprach, verliebt sich in sie und wird Li'chower Jäger; Hedwig wird gleichfalls
Li'chower Jäger, und hat Mühe, sich der Liebe Wilhelm's zu entziehen; sie ist in
Theodor Körner verliebt, mehr in den Dichter als in den Menschen; Theodor
Körner ist das Ideal der Menschheit, der Weise und Prophet, der alles Gewöhn¬
liche in seiner erhabenen Seele überwunden hat. Er wird erschossen, die ver¬
zweifelte Hedwig gleichfalls, der verzweifelte Wilhelm gleichfalls, der treue Her¬
mann heirathet Theresen.

Wie sich erwarten läßt, herrscht neben dem Pathos eine unendliche Sentimen¬
talität. Zwar kommen hin und wieder auch humoristische Anklänge vor, aber sie
verhallen in dem allgemeinen Rythmus der patriotischen Begeisterung, «I^int
vires, onem e«t luuclimili«, vvlmttus! ....

In einer zweiten Novelle: Attila (? Bde.), werden wir dagegen in die
graue Urzeit versetzt. Es ist ein Glied eines größern Cyclus: Geschichten
des Ostens, von Josef Martin. (Pesth, 1847. G. Heckenast.)

Ich glaube, es ist Fr. Souliv, der einen ähnlichen barbarischen Stoff, die
Geschichte des Westgothischen Königs Enrich, in einem Roman behandelt hat.
Dieses Buch oder ein ähnliches scheint dem Verfasser vorgeschwebt zu haben, we¬
nigstens ist die neufranzösische Manier unverkennbar, nicht allein in der ganzen
Art der Erzählung und Charakteristik, sondern selbst in der äußerlichen Form
der kurzen, ohne Berbindung aneinandergereihten Sätze. Wer erinnert sich nicht
an die Redeweise Engen Sue's und seiner Nachahmer, wenn ihm auf jeder Seite
einige Dutzend Absätze ausstoßen. Der Name Martin klingt übrigens selbst fran¬
zösisch. Doch können wir nicht annehmen, daß die ehrenwerthe Buchhandlung
eine Uebersetzung auf dem Titel anzugeben unterlassen werde!

Was die Kunst der Schilderung betrifft, so hat Joseph Martin die Franzosen
nicht ohne Erfolg gelesen. Einzelne Partien find' mit der höchsten Lebendigkeit und
Anschaulichkeit dargestellt, und die Handlung schreitet in beständiger Steigerung
fort. Es ist ferner wenigstens das Streben sichtbar, nicht nur der einzelnen
Person einen bestimmten Charakter zu leihen, sondern anch die Sitte und Welt¬
anschauung der Zeit, ja die locale und nationale Farbe hineinspielen zu lassen.
Aber die Wahl des Gegenstandes ist nicht eine glückliche zu nennen. Zu der
Huunenzeit und ihrer Weltanschauung hat die Gegenwart gar keine Beziehung,
die Erscheinungen derselben können nur durch ihren Contrast frappiren. Die Dar¬
stellung einer historischen Periode, die außer allem Verhältniß zu der unsrigen
steht, scheitert nothwendig an einer von zwei Klippen: entweder wird die moderne
Anschauung hineingelegt, und dadurch die Zeit corrumpirt, oder die ganze Ge-


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[0218] gie seliger Burschenschaft noch übertrifft, und wenn diese Sprache das ganze Buch hindurch in ununterbrochener Folge abgesponnen wird? Wilhelm und Therese sind verlobt; Therese wird im Stillen von Hermann geliebt; Wilhelm steht Hedwig, eine Amazone, die jene begeisternden Worte aus- sprach, verliebt sich in sie und wird Li'chower Jäger; Hedwig wird gleichfalls Li'chower Jäger, und hat Mühe, sich der Liebe Wilhelm's zu entziehen; sie ist in Theodor Körner verliebt, mehr in den Dichter als in den Menschen; Theodor Körner ist das Ideal der Menschheit, der Weise und Prophet, der alles Gewöhn¬ liche in seiner erhabenen Seele überwunden hat. Er wird erschossen, die ver¬ zweifelte Hedwig gleichfalls, der verzweifelte Wilhelm gleichfalls, der treue Her¬ mann heirathet Theresen. Wie sich erwarten läßt, herrscht neben dem Pathos eine unendliche Sentimen¬ talität. Zwar kommen hin und wieder auch humoristische Anklänge vor, aber sie verhallen in dem allgemeinen Rythmus der patriotischen Begeisterung, «I^int vires, onem e«t luuclimili«, vvlmttus! .... In einer zweiten Novelle: Attila (? Bde.), werden wir dagegen in die graue Urzeit versetzt. Es ist ein Glied eines größern Cyclus: Geschichten des Ostens, von Josef Martin. (Pesth, 1847. G. Heckenast.) Ich glaube, es ist Fr. Souliv, der einen ähnlichen barbarischen Stoff, die Geschichte des Westgothischen Königs Enrich, in einem Roman behandelt hat. Dieses Buch oder ein ähnliches scheint dem Verfasser vorgeschwebt zu haben, we¬ nigstens ist die neufranzösische Manier unverkennbar, nicht allein in der ganzen Art der Erzählung und Charakteristik, sondern selbst in der äußerlichen Form der kurzen, ohne Berbindung aneinandergereihten Sätze. Wer erinnert sich nicht an die Redeweise Engen Sue's und seiner Nachahmer, wenn ihm auf jeder Seite einige Dutzend Absätze ausstoßen. Der Name Martin klingt übrigens selbst fran¬ zösisch. Doch können wir nicht annehmen, daß die ehrenwerthe Buchhandlung eine Uebersetzung auf dem Titel anzugeben unterlassen werde! Was die Kunst der Schilderung betrifft, so hat Joseph Martin die Franzosen nicht ohne Erfolg gelesen. Einzelne Partien find' mit der höchsten Lebendigkeit und Anschaulichkeit dargestellt, und die Handlung schreitet in beständiger Steigerung fort. Es ist ferner wenigstens das Streben sichtbar, nicht nur der einzelnen Person einen bestimmten Charakter zu leihen, sondern anch die Sitte und Welt¬ anschauung der Zeit, ja die locale und nationale Farbe hineinspielen zu lassen. Aber die Wahl des Gegenstandes ist nicht eine glückliche zu nennen. Zu der Huunenzeit und ihrer Weltanschauung hat die Gegenwart gar keine Beziehung, die Erscheinungen derselben können nur durch ihren Contrast frappiren. Die Dar¬ stellung einer historischen Periode, die außer allem Verhältniß zu der unsrigen steht, scheitert nothwendig an einer von zwei Klippen: entweder wird die moderne Anschauung hineingelegt, und dadurch die Zeit corrumpirt, oder die ganze Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/218>, abgerufen am 22.07.2024.