Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.daran, daß der Verfasser der unendlichen Fülle seines Stoffes nicht Herr gewor¬ Aus diesem literarischen Gebiete werden wir in dem zweiten Romane, von Ida daran, daß der Verfasser der unendlichen Fülle seines Stoffes nicht Herr gewor¬ Aus diesem literarischen Gebiete werden wir in dem zweiten Romane, von Ida <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0216" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/184980"/> <p xml:id="ID_711" prev="#ID_710"> daran, daß der Verfasser der unendlichen Fülle seines Stoffes nicht Herr gewor¬<lb/> den ist. Die Masse der Figuren, die sich aneinander drängen, bildet keine durch¬<lb/> sichtige Gruppe; was man die Einheit der Handlung nenut, dieses langathmige<lb/> Pathos, das bei aller Mannigfaltigkeit des Inhalts dennoch die Phantasie und<lb/> das Gefühl uach Einer Richtung hintreibt, ist nicht vorhanden. Wenn der Ro¬<lb/> man seinen Zweck erfüllen soll, so muß er sich denselben Gesetzen fügen, wie das<lb/> Drama, einem Gesetz, das z. B. in den Romanen von W. Scott stets sich geltend<lb/> macht, seiue schönste Form aber in Goethe's Wahlverwandschaften erreicht. —<lb/> Außerdem hat der Gegenstand selbst, so fruchtbar er beim ersten Ansehen erscheint,<lb/> seine Schwierigkeiten. Es ist eine Geschichte, die uicht auf sich selbst ruht, son¬<lb/> dern die ihr Verständniß und ihr Interesse erst in der Totalität der geschichtlichen<lb/> Bewegungen jener Zeit findet, eine Geschichte, die also nicht sür das Gemüth<lb/> oder die Phantasie, sondern für deu Verstand berechnet ist. Goethe hat in seinem<lb/> Herrmann jene Zeitbewcguug gleichfalls hereingezogen, aber nur als dunkeln Hin¬<lb/> tergrund, als Rahmen; das eigentliche Interesse ist in dem Gemälde selbst voll¬<lb/> ständig erschöpft und bewältigt. Sodann ist es gefährlich, bei den geschilderten<lb/> Personen ein schon bestehendes — und noch dazu literarisches — Interesse voraus¬<lb/> zusetzen. Forsters literarische Stellung zu schildern, wäre gegen die Kunstform<lb/> des Romanes; wird sie aber blos vorausgesetzt, so sehlt wieder ein wesentlicher<lb/> Theil seines Charakters. Bei eigentlich historischen Personen hat das weniger zu<lb/> sagen; von Napoleon, von Ludwig XIV., von Croniwell u. s. w. ist ein Bild in<lb/> unserer Phantasie, und die Phantasie ist gefällig genug, dem Dichter zu Hülfe<lb/> zu kommen. Aber einen literarischen Charakter tragen wir nicht im Bilde, sondern<lb/> nur in der Reflexion in uns, und die Reflexiv» unterstützt nicht den Dichter, sie<lb/> weckt nur die Kritik.....</p><lb/> <p xml:id="ID_712" next="#ID_713"> Aus diesem literarischen Gebiete werden wir in dem zweiten Romane, von Ida<lb/> v. Düringsfeld, Verfasserin von „Schloß Gvczyn": Margarethe voll<lb/> Valois und ihre Zeit (3 Bde., Leipzig, F. A. Brockhaus), in die bewegte<lb/> Welt der Liebe und Politik hinübergeleitet. Es ist die uns wohlbekannte, blutige<lb/> wollüstige Zeit der lüsternen Cathäriue von Medici 1572 — 89, die uns in ziem¬<lb/> lich loser Folge vorgeführt wird. Die Verfasserin hält sich streng an die Memoiren<lb/> jener Zeit, namentlich all Brantome; sogar stylistisch werden sie fast unmittelbar<lb/> wieder gegeben. Im Einzelnen ist jene Zeit von den Franzosen selbst, namentlich<lb/> von A. Dumas, schoir oft genug behandelt werden; wir finden uns in einer bekann¬<lb/> ten Gesellschaft, keine einzige Figur ist uns fremd. Die Verfassen» legt auf die<lb/> Begebenheiten selbst und ihren Zusammenhang keinen Werth; sie nimmt sie, wie<lb/> sie dieselben vorfindet; auch die Charaktere werden eigentlich nur copirt. Nur in<lb/> der psychologischen Entwickelung der weiblichen Unholdinnen, in welchen die ganze<lb/> Unsittlichkeit einer glaubenlosen Zeit sich Lust macht, ist eine originelle Poesie<lb/> sichtbar. Margarethe ist ein geniales Weib mit ungemeinem Liebebedürfniß; weil</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0216]
daran, daß der Verfasser der unendlichen Fülle seines Stoffes nicht Herr gewor¬
den ist. Die Masse der Figuren, die sich aneinander drängen, bildet keine durch¬
sichtige Gruppe; was man die Einheit der Handlung nenut, dieses langathmige
Pathos, das bei aller Mannigfaltigkeit des Inhalts dennoch die Phantasie und
das Gefühl uach Einer Richtung hintreibt, ist nicht vorhanden. Wenn der Ro¬
man seinen Zweck erfüllen soll, so muß er sich denselben Gesetzen fügen, wie das
Drama, einem Gesetz, das z. B. in den Romanen von W. Scott stets sich geltend
macht, seiue schönste Form aber in Goethe's Wahlverwandschaften erreicht. —
Außerdem hat der Gegenstand selbst, so fruchtbar er beim ersten Ansehen erscheint,
seine Schwierigkeiten. Es ist eine Geschichte, die uicht auf sich selbst ruht, son¬
dern die ihr Verständniß und ihr Interesse erst in der Totalität der geschichtlichen
Bewegungen jener Zeit findet, eine Geschichte, die also nicht sür das Gemüth
oder die Phantasie, sondern für deu Verstand berechnet ist. Goethe hat in seinem
Herrmann jene Zeitbewcguug gleichfalls hereingezogen, aber nur als dunkeln Hin¬
tergrund, als Rahmen; das eigentliche Interesse ist in dem Gemälde selbst voll¬
ständig erschöpft und bewältigt. Sodann ist es gefährlich, bei den geschilderten
Personen ein schon bestehendes — und noch dazu literarisches — Interesse voraus¬
zusetzen. Forsters literarische Stellung zu schildern, wäre gegen die Kunstform
des Romanes; wird sie aber blos vorausgesetzt, so sehlt wieder ein wesentlicher
Theil seines Charakters. Bei eigentlich historischen Personen hat das weniger zu
sagen; von Napoleon, von Ludwig XIV., von Croniwell u. s. w. ist ein Bild in
unserer Phantasie, und die Phantasie ist gefällig genug, dem Dichter zu Hülfe
zu kommen. Aber einen literarischen Charakter tragen wir nicht im Bilde, sondern
nur in der Reflexion in uns, und die Reflexiv» unterstützt nicht den Dichter, sie
weckt nur die Kritik.....
Aus diesem literarischen Gebiete werden wir in dem zweiten Romane, von Ida
v. Düringsfeld, Verfasserin von „Schloß Gvczyn": Margarethe voll
Valois und ihre Zeit (3 Bde., Leipzig, F. A. Brockhaus), in die bewegte
Welt der Liebe und Politik hinübergeleitet. Es ist die uns wohlbekannte, blutige
wollüstige Zeit der lüsternen Cathäriue von Medici 1572 — 89, die uns in ziem¬
lich loser Folge vorgeführt wird. Die Verfasserin hält sich streng an die Memoiren
jener Zeit, namentlich all Brantome; sogar stylistisch werden sie fast unmittelbar
wieder gegeben. Im Einzelnen ist jene Zeit von den Franzosen selbst, namentlich
von A. Dumas, schoir oft genug behandelt werden; wir finden uns in einer bekann¬
ten Gesellschaft, keine einzige Figur ist uns fremd. Die Verfassen» legt auf die
Begebenheiten selbst und ihren Zusammenhang keinen Werth; sie nimmt sie, wie
sie dieselben vorfindet; auch die Charaktere werden eigentlich nur copirt. Nur in
der psychologischen Entwickelung der weiblichen Unholdinnen, in welchen die ganze
Unsittlichkeit einer glaubenlosen Zeit sich Lust macht, ist eine originelle Poesie
sichtbar. Margarethe ist ein geniales Weib mit ungemeinem Liebebedürfniß; weil
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