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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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hatte. Es ist etwas Großes, ein halbes Jahrhundert lang unausgesetzt zu schreiben,
ohne jemals einen eigenen Gedanken, ein selbstständiges Urtheil fassen zu dürfen.

Doch es ward ihm noch eine Freude. Der Vetter Christian erschien, und
lud den Alten aufrichtig und theilnehmend zum Besuche während des warmen
Augustwetters ein. Als Herr Weise und Eleonore in dem Wagen, den ihnen
Christian geschickt hatte, auf dem Landgute ankamen, trat ihnen ein blühender
kräftiger Bursche entgegen. Es war Friedrich, der sonst so blasse und schmächtige,
der seinem Vater ungestüm um den Hals fiel. "Der Junge wird ein perfekter
Landwirth, Vetter!" rief Christian, "er hat Geschick dazu, wie Ewer, und es
kommt ihm nun gut zu Statten, daß er bei Dir die schöne Handschrist gelernt hat.

Das Vaterherz verschloß sich nicht länger, er drückte den Wiedergefundenen
zärtlich an seine Brust und ließ Alles geschehn, wie die Andern es wollten.

Als der rauhe Octvbermvuat kam, starb er an Entkräftung. Ju seinem Nach¬
lasse fand steh außer den Schätzen an Federn, Papier, Siegellack u. f. w. nicht das
Mindeste vor. Man brachte ihn an einem regnerischen Herbstmorgen zur Ruhe.
Hinter dem Leichenwagen fuhr die schöne Equipage des Herrn Präsidenten, mit ei¬
nem betreßter Bedienten hintenaus; dann folgte nur noch ein Miethswagen, in
welchem Eleonore und Herr Robert als Verlobte saßen. Christian und Friedrich
gingen / it dem Geistlichen zu Fuß uach dem Kirchhof; sonst gab ihm Niemand
d^^ Geleite. Auf dem Begräbnißplatze war diejenige Menge anwesend, welche einer
jeden ?^Stallung trotz Regen und Sturm beizuwohnen nie unterläßt. "Wie hieß
er?" fragte eine alte Frau. "Er soll Weise geheißen haben," erzählte eine Andre,
"und ist Schreiber auf dem Gericht gewesen." -- "Des Morgens ging er immer
vor meinem Fenster vorbei," vertraute den Beiden ein Bürgersmann, "er war
wohl schon sehr alt; sie sagen ja, daß er seine Kinder soll sehr geschlagen haben,
ich weiß es aber nicht, ich hab' es nicht gesehen." -- "Hat er auch getrunken,
Nachbar?" fragte eine dritte alte Frau." -- "Davon hat man nichts gehört," er¬
wiederte Jener.

Der Geistliche blickte tvdesernst und tief bewegt in die Gruft und segnete das
Andenken dieses guten Mannes, der, so sprach er, "in bescheidener Zurückgezogen-
heit ein wahrhaft christliches Leben voll Demuth und Arbeitsamkeit geführt. Je¬
der thue an seiner Stelle, wenn sie auch eine niedrige ist, nnr das Rechte, über¬
hebe sich nicht über seine Mitmenschen, sei milde und sanft wie dieser und trachte
nicht nach hohen Dingen. Dann wird ihm auch die Genugthuung werden, welche
der Hingeschiedene genossen; er wird, geehrt von seinen Mitbürger", umgeben von
theure", wohlgerathuen Kindern, uach vollbrachte": Tagewerk -- i" heitrer Muße,
el"es sorgenfreien Lebensabends sich erstellen -- er wird endlich, wenn sein Stünd¬
lei" schlägt, beweint von Allen, die, seinem Beispiel im Leben folgend, ihn anch
heute auf seinem letzten Gange zur Gruft geleiten, zur Hütte des Friedens einges".
Ernst. Sanft ruhe seine Asche!"




hatte. Es ist etwas Großes, ein halbes Jahrhundert lang unausgesetzt zu schreiben,
ohne jemals einen eigenen Gedanken, ein selbstständiges Urtheil fassen zu dürfen.

Doch es ward ihm noch eine Freude. Der Vetter Christian erschien, und
lud den Alten aufrichtig und theilnehmend zum Besuche während des warmen
Augustwetters ein. Als Herr Weise und Eleonore in dem Wagen, den ihnen
Christian geschickt hatte, auf dem Landgute ankamen, trat ihnen ein blühender
kräftiger Bursche entgegen. Es war Friedrich, der sonst so blasse und schmächtige,
der seinem Vater ungestüm um den Hals fiel. „Der Junge wird ein perfekter
Landwirth, Vetter!" rief Christian, „er hat Geschick dazu, wie Ewer, und es
kommt ihm nun gut zu Statten, daß er bei Dir die schöne Handschrist gelernt hat.

Das Vaterherz verschloß sich nicht länger, er drückte den Wiedergefundenen
zärtlich an seine Brust und ließ Alles geschehn, wie die Andern es wollten.

Als der rauhe Octvbermvuat kam, starb er an Entkräftung. Ju seinem Nach¬
lasse fand steh außer den Schätzen an Federn, Papier, Siegellack u. f. w. nicht das
Mindeste vor. Man brachte ihn an einem regnerischen Herbstmorgen zur Ruhe.
Hinter dem Leichenwagen fuhr die schöne Equipage des Herrn Präsidenten, mit ei¬
nem betreßter Bedienten hintenaus; dann folgte nur noch ein Miethswagen, in
welchem Eleonore und Herr Robert als Verlobte saßen. Christian und Friedrich
gingen / it dem Geistlichen zu Fuß uach dem Kirchhof; sonst gab ihm Niemand
d^^ Geleite. Auf dem Begräbnißplatze war diejenige Menge anwesend, welche einer
jeden ?^Stallung trotz Regen und Sturm beizuwohnen nie unterläßt. „Wie hieß
er?" fragte eine alte Frau. „Er soll Weise geheißen haben," erzählte eine Andre,
„und ist Schreiber auf dem Gericht gewesen." — „Des Morgens ging er immer
vor meinem Fenster vorbei," vertraute den Beiden ein Bürgersmann, „er war
wohl schon sehr alt; sie sagen ja, daß er seine Kinder soll sehr geschlagen haben,
ich weiß es aber nicht, ich hab' es nicht gesehen." — „Hat er auch getrunken,
Nachbar?" fragte eine dritte alte Frau." — „Davon hat man nichts gehört," er¬
wiederte Jener.

Der Geistliche blickte tvdesernst und tief bewegt in die Gruft und segnete das
Andenken dieses guten Mannes, der, so sprach er, „in bescheidener Zurückgezogen-
heit ein wahrhaft christliches Leben voll Demuth und Arbeitsamkeit geführt. Je¬
der thue an seiner Stelle, wenn sie auch eine niedrige ist, nnr das Rechte, über¬
hebe sich nicht über seine Mitmenschen, sei milde und sanft wie dieser und trachte
nicht nach hohen Dingen. Dann wird ihm auch die Genugthuung werden, welche
der Hingeschiedene genossen; er wird, geehrt von seinen Mitbürger», umgeben von
theure», wohlgerathuen Kindern, uach vollbrachte»: Tagewerk — i» heitrer Muße,
el»es sorgenfreien Lebensabends sich erstellen — er wird endlich, wenn sein Stünd¬
lei» schlägt, beweint von Allen, die, seinem Beispiel im Leben folgend, ihn anch
heute auf seinem letzten Gange zur Gruft geleiten, zur Hütte des Friedens einges».
Ernst. Sanft ruhe seine Asche!"




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/172>, abgerufen am 22.07.2024.