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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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Schreiber kann ich nicht werden, und Du brauchst Dich meinetwegen nicht zu
ängstigen." --

Herr Weise las dieses Billet wiederholt durch und betrachtete es aufmerksam.
"Und wie schlecht geschrieben!" murmelte er kummervoll, "welche Krähenfuße! Das
ist die Frucht meiner väterlichen, treuen Sorgfalt!" Er betrachtete das Blatt von
allen Seiten: "Himmel!" rief er plötzlich aus, "das ist von dem Velinpapier aus
meinem Pulte, der infame Junge hat es mir gestohlen!" Dann verfiel er in ein
wehmüthiges Nachsinnen.

Er war väterlich und tief betrübt. Eine Verfolgung konnte, das sah er
ein, nichts helfen, denn wohin sollte man sich wenden? Es wußte ja kein Mensch,
welche Richtung der Junge eingeschlagen hatte. Und nnn die schönen Plane für
die Zukunft, des einzigen Sohnes waren vereitelt. Er zog seine Feierkleider'an,
und begab sich zu dem Herrn Präsidenten, um demselben anzuzeigen, daß sein
Sohn verhindert sei, schon heute die neue Beschäftigung in der Canzellei zu
übernehmen. "Das thut mir Leid, Herr Weise!" sagte der Präsident. "Inzwischen
sollen auch Sie sich nicht länger quälen; Sie klagen selbst über Ihre Augenschwäche,
und das Zittern Ihrer Hände gestattet Ihnen eine anhaltende Beschäftigung nicht
mehr. Es wird Ihnen daher erwünscht sein, Ihre alten Tage in Nuhe und Muße
hinzubringen; ich kann Ihnen eröffnen, daß Sie von heute ab mit Pension in
den Ruhestand versetzt sind.

Herr Weise stand wie versteinert und starrte den Herrn Präsidenten an.
Dieser reichte ihm zum Abschiede wohlwollend die Hand, und der Geheime Can¬
zellei - Secretair außer Diensten verließ tief gebeugt und fast bewußtlos die Stätte
seiner langjährigen Mühen.

Von diesem Tage an ging es sichtbar mit seiner Gesundheit bergab -- er war
ein gebrochener Mann. In den Grundtiefen seines Lebens unheilbar erschüttert,
gereichte ihm die Nuhe, welche seinem Alter gegönnt wurde, nicht zur Frende und
zur Erholung, sondern zur Trauer und zum Mißmuthe. Unwillkürlich griff er des
Morgens, wenn er in aller Frühe aufgestanden war, nach dem Hute, um auf die
Canzellei zu gehn und zu schreiben -- doch dann besann er sich plötzlich, setzte sich
in seinen Lehnstuhl und versank in stilles Nachdenken. Niemand fragte nach dem
Geheimen Canzellei-Secretair, seine Lebensaufgabe war beendet, er hatte kein
Amt mehr, und geknickt führte er uur noch eine halbe Existenz. Wie langsau: ver¬
strichen ihm die Tage. Spazieren gehn konnte er nicht länger als eine Stunde,
er war es seit fast fünfzig Jahren nicht anders gewohnt; auch die Mittagsmahlzeit
dauerte stets nur kurze Zeit, da bliebe" immer noch die vielen, langen Stunden,
in denen er sonst auf der Canzellei gearbeitet hatte; sie waren trostlos und öde.
Kartenspielen mochte er auch nicht und am Lesen hatte er niemals Freude gehabt.
Es ging mit ihm zu Ende, uur seine Träume versetzten ihn noch dann und wann
zurück in die Canzellei, der er Alles, Alles was er war und besaß bereitwillig geopfert


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Schreiber kann ich nicht werden, und Du brauchst Dich meinetwegen nicht zu
ängstigen." —

Herr Weise las dieses Billet wiederholt durch und betrachtete es aufmerksam.
„Und wie schlecht geschrieben!" murmelte er kummervoll, „welche Krähenfuße! Das
ist die Frucht meiner väterlichen, treuen Sorgfalt!" Er betrachtete das Blatt von
allen Seiten: „Himmel!" rief er plötzlich aus, „das ist von dem Velinpapier aus
meinem Pulte, der infame Junge hat es mir gestohlen!" Dann verfiel er in ein
wehmüthiges Nachsinnen.

Er war väterlich und tief betrübt. Eine Verfolgung konnte, das sah er
ein, nichts helfen, denn wohin sollte man sich wenden? Es wußte ja kein Mensch,
welche Richtung der Junge eingeschlagen hatte. Und nnn die schönen Plane für
die Zukunft, des einzigen Sohnes waren vereitelt. Er zog seine Feierkleider'an,
und begab sich zu dem Herrn Präsidenten, um demselben anzuzeigen, daß sein
Sohn verhindert sei, schon heute die neue Beschäftigung in der Canzellei zu
übernehmen. „Das thut mir Leid, Herr Weise!" sagte der Präsident. „Inzwischen
sollen auch Sie sich nicht länger quälen; Sie klagen selbst über Ihre Augenschwäche,
und das Zittern Ihrer Hände gestattet Ihnen eine anhaltende Beschäftigung nicht
mehr. Es wird Ihnen daher erwünscht sein, Ihre alten Tage in Nuhe und Muße
hinzubringen; ich kann Ihnen eröffnen, daß Sie von heute ab mit Pension in
den Ruhestand versetzt sind.

Herr Weise stand wie versteinert und starrte den Herrn Präsidenten an.
Dieser reichte ihm zum Abschiede wohlwollend die Hand, und der Geheime Can¬
zellei - Secretair außer Diensten verließ tief gebeugt und fast bewußtlos die Stätte
seiner langjährigen Mühen.

Von diesem Tage an ging es sichtbar mit seiner Gesundheit bergab — er war
ein gebrochener Mann. In den Grundtiefen seines Lebens unheilbar erschüttert,
gereichte ihm die Nuhe, welche seinem Alter gegönnt wurde, nicht zur Frende und
zur Erholung, sondern zur Trauer und zum Mißmuthe. Unwillkürlich griff er des
Morgens, wenn er in aller Frühe aufgestanden war, nach dem Hute, um auf die
Canzellei zu gehn und zu schreiben — doch dann besann er sich plötzlich, setzte sich
in seinen Lehnstuhl und versank in stilles Nachdenken. Niemand fragte nach dem
Geheimen Canzellei-Secretair, seine Lebensaufgabe war beendet, er hatte kein
Amt mehr, und geknickt führte er uur noch eine halbe Existenz. Wie langsau: ver¬
strichen ihm die Tage. Spazieren gehn konnte er nicht länger als eine Stunde,
er war es seit fast fünfzig Jahren nicht anders gewohnt; auch die Mittagsmahlzeit
dauerte stets nur kurze Zeit, da bliebe» immer noch die vielen, langen Stunden,
in denen er sonst auf der Canzellei gearbeitet hatte; sie waren trostlos und öde.
Kartenspielen mochte er auch nicht und am Lesen hatte er niemals Freude gehabt.
Es ging mit ihm zu Ende, uur seine Träume versetzten ihn noch dann und wann
zurück in die Canzellei, der er Alles, Alles was er war und besaß bereitwillig geopfert


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/171>, abgerufen am 22.07.2024.