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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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das reifere Alter gehört, den Knabenjahren zugemuthet wird -- und Ihr werdet
vollkommen begreifen, was man unter russischer Civilisation zu verstehen habe.
Dabei ist selbst jene Unparteilichkeit nicht erreicht worden; wie sich (man verzeihe
den Vergleich) die Gauner Londons bei neuen polizeilichen Maßnahmen gegen sie
jedesmal versammeln sollen, um gemeinschaftlich Gegenmaßregeln zu treffen, so
hat man anch dem unglücklichen Zufalle bei jenem Fragen-Loosen vorgebeugt; dem
Zögling wird gestattet, seine Zettel 10 bis 15 Minuten vor der Beantwortung
zu ziehen, um sich zu dieser gehörig vorzubereiten, und das geschieht innerhalb
der Zeit auf ganz vollständige Weise. Die jungen Leute haben nämlich die Ant¬
worten in sehr kleiner Schrift auf Papierstreifen und lassen sie in diesem wichtigen
Augenblicke einander nach der Nummer gern zukommen, weshalb es schon ein
paar Mal dagewesen, daß auf Frage 34 völlig sinnlos mit 43 erwidert wurde.
Da hat man dem Examinanden bemerkt, er sei irre geworden und könne sich eine
andere Frage ziehen. Regelmäßig wird aber sehr gut geantwortet -- und der
Patron der Anstalt, Director, Lehrer, Gouverneurs und Schüler sind völlig zufrie¬
den gestellt. Bin ich daher nicht höchst eigensinnig, gegen Sachen zu opponiren, bei
denen alle Theilhaber nichts weiter wünschen? Das ist mir auch bereits gesagt worden.

Es ist hiernach wohl leicht einzusehen, daß Auswendiglernen bei der russischen
Bildung eine große Rolle spielt, und wer daran noch zweifelt, den dürfte Eine
öffentliche Prüfung berichtigen. Geistigen Antworten wird bei solcher Gelegenheit
selten einige Aufmerksamkeit gewidmet, weil sie natürlich weniger fließend sind,
als memorirte; weiß aber in der Geschichte ein Zögling die ganze Dynastie eines
auswärtigen Reiches an die Tafel zu schreiben, so erfolgt lautes Lob der anwesen¬
den Herren und Alles streckt den Kops hoch in die Höhe, das Wunderthier zu
sehen. Freilich machte dazu, hier und dort, Einer einmal ein sehr bittersüßes
Gesicht; wer darf eS indeß wagen, sich dabei gegen das Staatsprincip auszuspre-
chen? denn diese Disciplin ist überhaupt unbequem, und z. B. Herodot mit sei¬
ner lebenswarmen Darstellung gar nicht bekannt; mau versäumt nichts, sie nicht
nnr völlig unschädlich, sondern anch nützlich zu machen, und wir alle Drei erle¬
ben's noch, daß hier keine allgemeine Weltgeschichte gelesen werden darf, die nicht
von Russen geschrieben worden. So erhielt vor mehreren Jahren ein Herr v.
Jassinsky (Pole) 20 oder 25.000 Rubel für den miserabeln Gedanken, beim histo¬
rischen Unterrichte für jedes Jahrhundert 10 Mal 10 Quadraten zu machen und
darin die einzelnen Ereignisse anzumerken (wer die meisten weiß, ist der Gesehen
teste), so daß das Auge schnell die Decennien und ihre Jahre überblickt, solcher¬
gestalt dem Gedächtniß zu Hülfe kommt, und nebenbei gleichgültiger macht für den
Grund dieser oder jener Begebenheit, wenn ja die Rede davon sein sollte. Und
es wird darin erzählt, Herr v. Usträlof habe eine gleiche Nubelsnmme in Silber
erhalten für sein geschichtliches Werk, in dem er behauptet: Weißrußland habe
früher nicht zu Polen gehört, sei vielmehr erst später von diesen, den Russen ent-


das reifere Alter gehört, den Knabenjahren zugemuthet wird — und Ihr werdet
vollkommen begreifen, was man unter russischer Civilisation zu verstehen habe.
Dabei ist selbst jene Unparteilichkeit nicht erreicht worden; wie sich (man verzeihe
den Vergleich) die Gauner Londons bei neuen polizeilichen Maßnahmen gegen sie
jedesmal versammeln sollen, um gemeinschaftlich Gegenmaßregeln zu treffen, so
hat man anch dem unglücklichen Zufalle bei jenem Fragen-Loosen vorgebeugt; dem
Zögling wird gestattet, seine Zettel 10 bis 15 Minuten vor der Beantwortung
zu ziehen, um sich zu dieser gehörig vorzubereiten, und das geschieht innerhalb
der Zeit auf ganz vollständige Weise. Die jungen Leute haben nämlich die Ant¬
worten in sehr kleiner Schrift auf Papierstreifen und lassen sie in diesem wichtigen
Augenblicke einander nach der Nummer gern zukommen, weshalb es schon ein
paar Mal dagewesen, daß auf Frage 34 völlig sinnlos mit 43 erwidert wurde.
Da hat man dem Examinanden bemerkt, er sei irre geworden und könne sich eine
andere Frage ziehen. Regelmäßig wird aber sehr gut geantwortet — und der
Patron der Anstalt, Director, Lehrer, Gouverneurs und Schüler sind völlig zufrie¬
den gestellt. Bin ich daher nicht höchst eigensinnig, gegen Sachen zu opponiren, bei
denen alle Theilhaber nichts weiter wünschen? Das ist mir auch bereits gesagt worden.

Es ist hiernach wohl leicht einzusehen, daß Auswendiglernen bei der russischen
Bildung eine große Rolle spielt, und wer daran noch zweifelt, den dürfte Eine
öffentliche Prüfung berichtigen. Geistigen Antworten wird bei solcher Gelegenheit
selten einige Aufmerksamkeit gewidmet, weil sie natürlich weniger fließend sind,
als memorirte; weiß aber in der Geschichte ein Zögling die ganze Dynastie eines
auswärtigen Reiches an die Tafel zu schreiben, so erfolgt lautes Lob der anwesen¬
den Herren und Alles streckt den Kops hoch in die Höhe, das Wunderthier zu
sehen. Freilich machte dazu, hier und dort, Einer einmal ein sehr bittersüßes
Gesicht; wer darf eS indeß wagen, sich dabei gegen das Staatsprincip auszuspre-
chen? denn diese Disciplin ist überhaupt unbequem, und z. B. Herodot mit sei¬
ner lebenswarmen Darstellung gar nicht bekannt; mau versäumt nichts, sie nicht
nnr völlig unschädlich, sondern anch nützlich zu machen, und wir alle Drei erle¬
ben's noch, daß hier keine allgemeine Weltgeschichte gelesen werden darf, die nicht
von Russen geschrieben worden. So erhielt vor mehreren Jahren ein Herr v.
Jassinsky (Pole) 20 oder 25.000 Rubel für den miserabeln Gedanken, beim histo¬
rischen Unterrichte für jedes Jahrhundert 10 Mal 10 Quadraten zu machen und
darin die einzelnen Ereignisse anzumerken (wer die meisten weiß, ist der Gesehen
teste), so daß das Auge schnell die Decennien und ihre Jahre überblickt, solcher¬
gestalt dem Gedächtniß zu Hülfe kommt, und nebenbei gleichgültiger macht für den
Grund dieser oder jener Begebenheit, wenn ja die Rede davon sein sollte. Und
es wird darin erzählt, Herr v. Usträlof habe eine gleiche Nubelsnmme in Silber
erhalten für sein geschichtliches Werk, in dem er behauptet: Weißrußland habe
früher nicht zu Polen gehört, sei vielmehr erst später von diesen, den Russen ent-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/111>, abgerufen am 22.07.2024.