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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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Stille verschafft haben würde: da wandte man Ueberfütterung an, und der
Essende ging zu Grunde. Die bisherige rohe Gewalt wurde auch hier durch jene
List verdrängt, welche Rußlands äußere Politik schon seit lange charakterisirt, mo¬
ralisches Gift trat an die Stelle der Keule, und der Erfolg war nicht minder
sicher. Es ist eine grausenhafte Geschichte!

Zunächst wurden für ein paar Anstalten neue Lehrpläue gemacht (Affichen
gleichsam), und dadurch nicht nur dem Publiko Sand in die Augen gestreut, son¬
dern anch die übrigen Institute eigenthümlich angeregt. Jenes konnte sich weder
genug wundern, noch satt loben über die in Aussicht gestellte Verbesserung des
Schulwesens, da die russische Jngend auf diesem Wege sehr bald die kenntniß-
reichste in ganz Europa werden mußte, weil fast alle Zweige des menschlichen
Wissens mit Lehrstunden bedacht waren. Und wo mau nicht auf den Grund der
Dinge komme" darf, wie in Rußland, wo man vor Allem gern in der Gesellschaft
glänzen will, wie in Petersburg, da haben Kenntnisse einen ungleich großem
Werth als Wissenschaft. Kann mau denn mit dieser so brilliren, wie mit jener?
und wäre es nicht ein unheilbarer Todesstoß für das russische System, wenn
man im Lande vier Wochen lang gründlich sprechen wollte über Alles, was Gegen¬
stand der Unterhaltung wird? Daß jedoch bei so vielen Fächern keines nur einiger¬
maßen gründlich betrieben werden konnte, daß dadurch die besten Anlagen am
sichersten "cntralisirt wurden nud die jungen Leute als dünkelhafte Vielwisser die
Bildungsanstalten verlassen mußten -- mochte selten Jemand begreifen, und mir
selbst wurde einst bei einer hingeworfenen Bemerkung darüber sehr hämisch entgegnet:
"in Deutschland nehmen freilich die Schulen keine Rücksicht auf manche Branche,
welche hier gelehrt wird." l) s-moi-i, 8im>"Iicitil8! Unter solchen Umständen folgten
daher nicht blos die öffentlichen Anstalten, sondern auch die Privatinsiitnte
(Pensionen) gar bald dem gegebenen Beispiele, und wo ja Eine zurückblieb,
agacirte man irgend wie, bis sie sich fügte. Läßt sich dieses Verfahren nicht ge¬
radezu eine Dissipativn des Geistes nennen? Die Folgen desselben sind in der
That unberechenbar, und ich möchte die Jugend sehen, welche solchen Plänen
nicht als Opfer fiele.

Damit aber ja nicht so leicht diesem oder jenem Lehrer einfallen möchte, seine
Parthie gleichwohl gut vorzutragen, d. h. einen festen Grund legen und so die
Zöglinge in den Stand setzen, später selbst solid fortzuarbeiten, winde nach n"d
nach eine andere Art zu examiniren eingeführt und auch dabei das Publikum cap-
tivirt, weil es vou der augenscheinlichen Unparteilichkeit der Directorien entzückt
war. Jede deutlich erkennbare Gerechtigkeit von Seiten einer Behörde muß in
Rußland doppelt wohlthun, weil sie so selten ist -- und ich lasse dahingestellt,
ob nicht hierauf besonders gerechnet worden war. Früher nämlich frugen die
Lehrer nach Gutdünken, wie das bei jährlichen Examinil'us wohl gewöhnlich geschieht,
und ich darf zu Gunsten der netten Einrichtn""; nicht verschweigen, daß nach den


Stille verschafft haben würde: da wandte man Ueberfütterung an, und der
Essende ging zu Grunde. Die bisherige rohe Gewalt wurde auch hier durch jene
List verdrängt, welche Rußlands äußere Politik schon seit lange charakterisirt, mo¬
ralisches Gift trat an die Stelle der Keule, und der Erfolg war nicht minder
sicher. Es ist eine grausenhafte Geschichte!

Zunächst wurden für ein paar Anstalten neue Lehrpläue gemacht (Affichen
gleichsam), und dadurch nicht nur dem Publiko Sand in die Augen gestreut, son¬
dern anch die übrigen Institute eigenthümlich angeregt. Jenes konnte sich weder
genug wundern, noch satt loben über die in Aussicht gestellte Verbesserung des
Schulwesens, da die russische Jngend auf diesem Wege sehr bald die kenntniß-
reichste in ganz Europa werden mußte, weil fast alle Zweige des menschlichen
Wissens mit Lehrstunden bedacht waren. Und wo mau nicht auf den Grund der
Dinge komme» darf, wie in Rußland, wo man vor Allem gern in der Gesellschaft
glänzen will, wie in Petersburg, da haben Kenntnisse einen ungleich großem
Werth als Wissenschaft. Kann mau denn mit dieser so brilliren, wie mit jener?
und wäre es nicht ein unheilbarer Todesstoß für das russische System, wenn
man im Lande vier Wochen lang gründlich sprechen wollte über Alles, was Gegen¬
stand der Unterhaltung wird? Daß jedoch bei so vielen Fächern keines nur einiger¬
maßen gründlich betrieben werden konnte, daß dadurch die besten Anlagen am
sichersten «cntralisirt wurden nud die jungen Leute als dünkelhafte Vielwisser die
Bildungsanstalten verlassen mußten — mochte selten Jemand begreifen, und mir
selbst wurde einst bei einer hingeworfenen Bemerkung darüber sehr hämisch entgegnet:
„in Deutschland nehmen freilich die Schulen keine Rücksicht auf manche Branche,
welche hier gelehrt wird." l) s-moi-i, 8im>»Iicitil8! Unter solchen Umständen folgten
daher nicht blos die öffentlichen Anstalten, sondern auch die Privatinsiitnte
(Pensionen) gar bald dem gegebenen Beispiele, und wo ja Eine zurückblieb,
agacirte man irgend wie, bis sie sich fügte. Läßt sich dieses Verfahren nicht ge¬
radezu eine Dissipativn des Geistes nennen? Die Folgen desselben sind in der
That unberechenbar, und ich möchte die Jugend sehen, welche solchen Plänen
nicht als Opfer fiele.

Damit aber ja nicht so leicht diesem oder jenem Lehrer einfallen möchte, seine
Parthie gleichwohl gut vorzutragen, d. h. einen festen Grund legen und so die
Zöglinge in den Stand setzen, später selbst solid fortzuarbeiten, winde nach n»d
nach eine andere Art zu examiniren eingeführt und auch dabei das Publikum cap-
tivirt, weil es vou der augenscheinlichen Unparteilichkeit der Directorien entzückt
war. Jede deutlich erkennbare Gerechtigkeit von Seiten einer Behörde muß in
Rußland doppelt wohlthun, weil sie so selten ist — und ich lasse dahingestellt,
ob nicht hierauf besonders gerechnet worden war. Früher nämlich frugen die
Lehrer nach Gutdünken, wie das bei jährlichen Examinil'us wohl gewöhnlich geschieht,
und ich darf zu Gunsten der netten Einrichtn»«; nicht verschweigen, daß nach den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/109>, abgerufen am 22.07.2024.