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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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Auf Erden sein und nicht die Erde sehn
In Nacht stets pochen an verschloßnen Thüren
Blind sein und leben -- hin und wieder gehn
Und zweifeln müssen, daß sie recht uns führen.
In Nacht entschlummern und zu Nacht erwachen
Kein Kindeslacheln sehn, kein Flurenlachen --
Ein Unglück ist es, über jede Klage,
Doch zwiefach Unglück ist's an solchem Tage.
O blinder Mann, du setzest nicht die Lippen
An deines irdnen Bechers goldne Flut,
Du magst, ein Mensch, von edlem Wein nur nippen
Wenn Priesterzauber ihn verkehrt zu Blut.
Du siehst nicht, wie ein Rudel holder Kinder
Dir deinen Helm umflicht mit einem Kranz,
Wie arm du bist, wie elend, alter Blinder,
Zum ersten Male heut' begreif' ich's ganz!
Das Tagwerk ist gethan. Am blauen Strom,
Kahl steht der Berg -- ein ausgeraubter Dom!
Es war ein blüh'über Tag, was hilft's zu weilen?
Der Sigismund ist nah, das Heer muß eilen.
Hinrollen still die schlachtberühmten Wagen,
Mit Keltern, die die süße Beute tragen,
Die Fraun und Kinder folgen lustberauscht
Und ihrem fremden Lied die Donau lauscht.
Wie einst der Indus zwischen Lenzgestaden
Dem Zug gehorcht von Satyrn und Mänaden.
So zieht das Heer: Auf jedem Eisenhut
Verwelkt, vergilbt der Kranz von Weinlaub ruht
Und jedes Schwert, das Schreck und Tod gesandt,
Lacht wie ein Thvrsusstab in Kriegershand.
O stiller Zug zum heimathlichen Heerd
Wo Böhmens Tanne ihre Arme reckt.
Du bist der Einz'ge, aus dem unbetleckt
Von Blut die Kinder Tabor's heimgekehrt.



9*
Auf Erden sein und nicht die Erde sehn
In Nacht stets pochen an verschloßnen Thüren
Blind sein und leben — hin und wieder gehn
Und zweifeln müssen, daß sie recht uns führen.
In Nacht entschlummern und zu Nacht erwachen
Kein Kindeslacheln sehn, kein Flurenlachen —
Ein Unglück ist es, über jede Klage,
Doch zwiefach Unglück ist's an solchem Tage.
O blinder Mann, du setzest nicht die Lippen
An deines irdnen Bechers goldne Flut,
Du magst, ein Mensch, von edlem Wein nur nippen
Wenn Priesterzauber ihn verkehrt zu Blut.
Du siehst nicht, wie ein Rudel holder Kinder
Dir deinen Helm umflicht mit einem Kranz,
Wie arm du bist, wie elend, alter Blinder,
Zum ersten Male heut' begreif' ich's ganz!
Das Tagwerk ist gethan. Am blauen Strom,
Kahl steht der Berg — ein ausgeraubter Dom!
Es war ein blüh'über Tag, was hilft's zu weilen?
Der Sigismund ist nah, das Heer muß eilen.
Hinrollen still die schlachtberühmten Wagen,
Mit Keltern, die die süße Beute tragen,
Die Fraun und Kinder folgen lustberauscht
Und ihrem fremden Lied die Donau lauscht.
Wie einst der Indus zwischen Lenzgestaden
Dem Zug gehorcht von Satyrn und Mänaden.
So zieht das Heer: Auf jedem Eisenhut
Verwelkt, vergilbt der Kranz von Weinlaub ruht
Und jedes Schwert, das Schreck und Tod gesandt,
Lacht wie ein Thvrsusstab in Kriegershand.
O stiller Zug zum heimathlichen Heerd
Wo Böhmens Tanne ihre Arme reckt.
Du bist der Einz'ge, aus dem unbetleckt
Von Blut die Kinder Tabor's heimgekehrt.



9*
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[0067] Auf Erden sein und nicht die Erde sehn In Nacht stets pochen an verschloßnen Thüren Blind sein und leben — hin und wieder gehn Und zweifeln müssen, daß sie recht uns führen. In Nacht entschlummern und zu Nacht erwachen Kein Kindeslacheln sehn, kein Flurenlachen — Ein Unglück ist es, über jede Klage, Doch zwiefach Unglück ist's an solchem Tage. O blinder Mann, du setzest nicht die Lippen An deines irdnen Bechers goldne Flut, Du magst, ein Mensch, von edlem Wein nur nippen Wenn Priesterzauber ihn verkehrt zu Blut. Du siehst nicht, wie ein Rudel holder Kinder Dir deinen Helm umflicht mit einem Kranz, Wie arm du bist, wie elend, alter Blinder, Zum ersten Male heut' begreif' ich's ganz! Das Tagwerk ist gethan. Am blauen Strom, Kahl steht der Berg — ein ausgeraubter Dom! Es war ein blüh'über Tag, was hilft's zu weilen? Der Sigismund ist nah, das Heer muß eilen. Hinrollen still die schlachtberühmten Wagen, Mit Keltern, die die süße Beute tragen, Die Fraun und Kinder folgen lustberauscht Und ihrem fremden Lied die Donau lauscht. Wie einst der Indus zwischen Lenzgestaden Dem Zug gehorcht von Satyrn und Mänaden. So zieht das Heer: Auf jedem Eisenhut Verwelkt, vergilbt der Kranz von Weinlaub ruht Und jedes Schwert, das Schreck und Tod gesandt, Lacht wie ein Thvrsusstab in Kriegershand. O stiller Zug zum heimathlichen Heerd Wo Böhmens Tanne ihre Arme reckt. Du bist der Einz'ge, aus dem unbetleckt Von Blut die Kinder Tabor's heimgekehrt. 9*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/67>, abgerufen am 26.08.2024.