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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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man würdigte ihn keiner Antwort. Der geistvolle Rüstige verließ die
Gutenbergstadt, um in Stuttgart Anregung und Anerkennung zu finden.
Der Kunstverein sieht freilich seine innere Armuth ein; aber er stellt sich
reich. Er gleicht dem edlen Don Renudo de Colibrades, der mit hun¬
gerigen Magen sich die Zähne stochert, damit die Leute glauben, er habe
so eben die Freuden der Tafel verlassen. -- Doch ich sehe, daß ich den
hiesigen Kunstverein nicht bei seinem rechten Namen genannt habe; sein
Taufname ist: Verein für Kunst und Literatur. Sie werden mich nun
fragen, zu welchem Literaturcultus der Verein sich eigentlich vereinigt
hat? Ich kann Ihnen nur antworten, daß ich in dem Kunstverein ein¬
mal einen langen Vortrag über die verschiedenen Beinbrüche gehört habe.
Was aber die Kunst mit der Feldscheererci zu schaffen hat, kann ich Ih¬
nen nicht sagen, da ich von der Chirurgie nichts verstehe.

Ich komme jetzt vom Regen in die Traufe, nämlich von unserem
Kunstverein auf unser Stadttheater. Fürchten Sie nicht, daß ich mit
deutscher Gründlichkeit von den deutschen Theaterverhältnissen im Allge¬
meinen ausgehen und dann von dem Mainzer Theater im Besondern sprechen
werde. Wozu auch das abgedroschene Thema nochmals durchdreschen?
Es gibt kein Heilmittel, das man unserer kranken Bühne nicht schon
verschrieben hätte; aber so lange man nicht eine energische Radikalcur er¬
findet und anwendet, wird die edle Patientin immerfort hin kränkeln.
Es gibt kaum ein deutsches Theater, in welchem nicht die Musen den
Priestern derselben geopfert werden. Sollte Mainz eine Ausnahme ma¬
chen? Wir haben hier eines der größten und leider auch der theuersten
Schauspielhäuser in Deutschland; aber der große Umfang" des Hauses
dient nur dazu, daß die Kunst mehr Raum hat, sich zu verirren. Ein
Director nach dem andern kommt und geht -- unter; das hiesige Thea¬
ter ist eine wahre Schlachtbank für die armen Direktoren. Der jetzige
Director, Herr Wilhelm Löwe, ist ein gebildeter Mann mit den besten
Absichten; allein er steht in Gefahr, sein Vermögen zu verlieren, ohne
an Ruhm zu gewinnen. Glauben Sie aber ja nicht, daß das hiesige
Publicum der dramatischen Kunst gegenüber sich kalt erweist; im Gegen¬
theil, das hiesige Theater ist im Verhältniß zu andern viel fleißiger be¬
sucht. Aber unser Publicum stellt seine Anforderungen im Verhältniß
zur Größe des Hauses; es verlangt vom Direktor, daß er Kräfte herbei¬
schaffe die dem kolossalen Gebäude entsprechen. Unsere Theatcrdirectoren
müssen die Sünden büßen, die der Architekt dadurch begangen, daß er
mehr Rücksicht auf seine Phantasie nahm, als auf die Mittel, die der
nichts weniger als reichen Stadt zu Gebote stehen. Da es nun un¬
möglich ist, den kühnen Anforderungen des Publicums zu genügen, so
entsagt dieses den Theaterfreuden und sucht sich in den Gasthäusern beim
gefüllten Glase eine andere Zerstreuung.

Das Gasthofleben ist überhaupt ein Uebel, an welchem Mainz, so
wie die meisten rheinischen Städte kränkeln. Das Gasthofleben läßt kein
"nggeschlosseneö Familienleben aufkommen, und wahrend die Männer in
Weinhäusern Musterung über die verschiedenen Jahrgänge des Rebensäf¬
te hatten, ist die Frauenwelt genöthigt, sich zu Hause auf eigens Hand


man würdigte ihn keiner Antwort. Der geistvolle Rüstige verließ die
Gutenbergstadt, um in Stuttgart Anregung und Anerkennung zu finden.
Der Kunstverein sieht freilich seine innere Armuth ein; aber er stellt sich
reich. Er gleicht dem edlen Don Renudo de Colibrades, der mit hun¬
gerigen Magen sich die Zähne stochert, damit die Leute glauben, er habe
so eben die Freuden der Tafel verlassen. — Doch ich sehe, daß ich den
hiesigen Kunstverein nicht bei seinem rechten Namen genannt habe; sein
Taufname ist: Verein für Kunst und Literatur. Sie werden mich nun
fragen, zu welchem Literaturcultus der Verein sich eigentlich vereinigt
hat? Ich kann Ihnen nur antworten, daß ich in dem Kunstverein ein¬
mal einen langen Vortrag über die verschiedenen Beinbrüche gehört habe.
Was aber die Kunst mit der Feldscheererci zu schaffen hat, kann ich Ih¬
nen nicht sagen, da ich von der Chirurgie nichts verstehe.

Ich komme jetzt vom Regen in die Traufe, nämlich von unserem
Kunstverein auf unser Stadttheater. Fürchten Sie nicht, daß ich mit
deutscher Gründlichkeit von den deutschen Theaterverhältnissen im Allge¬
meinen ausgehen und dann von dem Mainzer Theater im Besondern sprechen
werde. Wozu auch das abgedroschene Thema nochmals durchdreschen?
Es gibt kein Heilmittel, das man unserer kranken Bühne nicht schon
verschrieben hätte; aber so lange man nicht eine energische Radikalcur er¬
findet und anwendet, wird die edle Patientin immerfort hin kränkeln.
Es gibt kaum ein deutsches Theater, in welchem nicht die Musen den
Priestern derselben geopfert werden. Sollte Mainz eine Ausnahme ma¬
chen? Wir haben hier eines der größten und leider auch der theuersten
Schauspielhäuser in Deutschland; aber der große Umfang" des Hauses
dient nur dazu, daß die Kunst mehr Raum hat, sich zu verirren. Ein
Director nach dem andern kommt und geht — unter; das hiesige Thea¬
ter ist eine wahre Schlachtbank für die armen Direktoren. Der jetzige
Director, Herr Wilhelm Löwe, ist ein gebildeter Mann mit den besten
Absichten; allein er steht in Gefahr, sein Vermögen zu verlieren, ohne
an Ruhm zu gewinnen. Glauben Sie aber ja nicht, daß das hiesige
Publicum der dramatischen Kunst gegenüber sich kalt erweist; im Gegen¬
theil, das hiesige Theater ist im Verhältniß zu andern viel fleißiger be¬
sucht. Aber unser Publicum stellt seine Anforderungen im Verhältniß
zur Größe des Hauses; es verlangt vom Direktor, daß er Kräfte herbei¬
schaffe die dem kolossalen Gebäude entsprechen. Unsere Theatcrdirectoren
müssen die Sünden büßen, die der Architekt dadurch begangen, daß er
mehr Rücksicht auf seine Phantasie nahm, als auf die Mittel, die der
nichts weniger als reichen Stadt zu Gebote stehen. Da es nun un¬
möglich ist, den kühnen Anforderungen des Publicums zu genügen, so
entsagt dieses den Theaterfreuden und sucht sich in den Gasthäusern beim
gefüllten Glase eine andere Zerstreuung.

Das Gasthofleben ist überhaupt ein Uebel, an welchem Mainz, so
wie die meisten rheinischen Städte kränkeln. Das Gasthofleben läßt kein
«nggeschlosseneö Familienleben aufkommen, und wahrend die Männer in
Weinhäusern Musterung über die verschiedenen Jahrgänge des Rebensäf¬
te hatten, ist die Frauenwelt genöthigt, sich zu Hause auf eigens Hand


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/562>, abgerufen am 26.08.2024.