Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Wirkungen und Bedingnisse, über die Petersburger Lebensweise und die
durch diese speciell bedingten Schaulichkeiten, über eine statistische Ent-
gcgenstellung der Geburth- und Sterbelisten, fährt zuletzt in die Frauen¬
welt ein und sucht die Wahrscheinlichkeitsgründ- für jene die Mortalität
der Männer um anderthalbmal überwiegende Sterblichkeit unter dem
weiblichen Geschlecht in Petersburg aus, welche nach seinem Dafürhalten
in der Staltseinrichtung selbst, in der üblichen Erziehungsweise überhaupt
und vor Allem in den schädlichen Einflüssen eines heimtückischen Klimas,
der Nahrung und Wohnung jener ihren "erderblichen Grund findet. Keine
Stadt in Europa zahlt nach den gegebenen statistischen Ausweisen des
Verfassers "so wenig Trauungen im Verhältniß zur Einwohnermenge,
als Se. Petersburg"; seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts bis zum
Jahre 1830 stieg die Zahl der Einwohner von 220,000 auf 350,000,
die Zahl der Ehebündnisse aber verringerte sich von 12,533 auf 11,129;
außer dem Verhältniß jedoch steigt die Zahl jener leinene" entrstenues
und der eigentlich Prostituirten, deren 14,000 unter specieller polizeilicher
Aufsicht stehen. "Die Befriedigung, welche der Mann für Her; und
Sinn in illegaler Verbindungen sucht und findet, zerstört die Achtung
der Welt und den moralischen Halt und untergräbt die Körpergesundheit
der liebeleer verheiratheten Frau/' Von dieser kritischen Betrachtung, die
tiefgehende und vollgültige Resultate geliefert, kommt er auf das siech--
rhum in Petersburg selbst und auf die durch Jahreszeiten und Witterung
bedingten Krankheitsconstitutionen wie auf die herrschenden Krankheiten
im Besondern zu sprechen und macht eine Wanderung durch die Heil¬
anstalten, durch die Militair- und öffentliche Hospitäler, Ministerialdepar-
tements-. Civil- und Privathospitaler. Die palastähnliche Einrichtung
derselben wird durch eine zweckwidrige Etiquette und despotisch ausartende
Disciplin, die den Kranken Gefängnißstrafe und körperliche Züchtigungen
aussetzt, beeinträchtigt und macht auch für den armen und hülflosen
Kranken ihre unentgeldliche Pflege nicht wünschenswerth. Er enthüllt
zuletzt die Geisteskrankheiten, deren empfindsamer Nerv und ihre wahr¬
scheinliche Ursache er in einer haarscharfen Bestimmung der verschiedenen
Volksstämme des russischen Reiches aufsucht und macht einen Gang
durch das "Pflegehaus" aller Bekümmerten, wie in Petersburg mit
einem milderen Worte unser hartes "Narrenhaus" genannt wird. Hier
schließt der erste Theil dieses Werkes, der Aerzten und Nichtärzten viele
wichtige wissenswerthe und interessante Erfahrungen und kritische Resul¬
tate aufgeschlossen, und der Verfasser geht nun auf die andere Krank¬
heit des kranken Petersburg: auf die Armuth über. Nun tritt er als
Publicist in volle Wirksamkeit, während früher mehr die ärztliche Beob¬
achtung sich geltend machte. Ein Staat ist nur dann reich und glück-
lich zu nennen, wenn die Wohlhabenheit gewissermaßen ein Erbgut
des gesammten Volkes ist; der Luxus der Reichen und Mächtigen:
ist nur der goldverbrämte Purpurlappen an dem gebornen Bettler-
mantel eines Staates, wie eben Rußland ist, wo der Pauperismus auf
eine fürchterliche Weise überHand genommen hat, und nicht durch "erecktl
Zugeständnisse von Seiten der Verwaltung verringert, sondern nur durch


Wirkungen und Bedingnisse, über die Petersburger Lebensweise und die
durch diese speciell bedingten Schaulichkeiten, über eine statistische Ent-
gcgenstellung der Geburth- und Sterbelisten, fährt zuletzt in die Frauen¬
welt ein und sucht die Wahrscheinlichkeitsgründ- für jene die Mortalität
der Männer um anderthalbmal überwiegende Sterblichkeit unter dem
weiblichen Geschlecht in Petersburg aus, welche nach seinem Dafürhalten
in der Staltseinrichtung selbst, in der üblichen Erziehungsweise überhaupt
und vor Allem in den schädlichen Einflüssen eines heimtückischen Klimas,
der Nahrung und Wohnung jener ihren «erderblichen Grund findet. Keine
Stadt in Europa zahlt nach den gegebenen statistischen Ausweisen des
Verfassers „so wenig Trauungen im Verhältniß zur Einwohnermenge,
als Se. Petersburg"; seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts bis zum
Jahre 1830 stieg die Zahl der Einwohner von 220,000 auf 350,000,
die Zahl der Ehebündnisse aber verringerte sich von 12,533 auf 11,129;
außer dem Verhältniß jedoch steigt die Zahl jener leinene» entrstenues
und der eigentlich Prostituirten, deren 14,000 unter specieller polizeilicher
Aufsicht stehen. „Die Befriedigung, welche der Mann für Her; und
Sinn in illegaler Verbindungen sucht und findet, zerstört die Achtung
der Welt und den moralischen Halt und untergräbt die Körpergesundheit
der liebeleer verheiratheten Frau/' Von dieser kritischen Betrachtung, die
tiefgehende und vollgültige Resultate geliefert, kommt er auf das siech--
rhum in Petersburg selbst und auf die durch Jahreszeiten und Witterung
bedingten Krankheitsconstitutionen wie auf die herrschenden Krankheiten
im Besondern zu sprechen und macht eine Wanderung durch die Heil¬
anstalten, durch die Militair- und öffentliche Hospitäler, Ministerialdepar-
tements-. Civil- und Privathospitaler. Die palastähnliche Einrichtung
derselben wird durch eine zweckwidrige Etiquette und despotisch ausartende
Disciplin, die den Kranken Gefängnißstrafe und körperliche Züchtigungen
aussetzt, beeinträchtigt und macht auch für den armen und hülflosen
Kranken ihre unentgeldliche Pflege nicht wünschenswerth. Er enthüllt
zuletzt die Geisteskrankheiten, deren empfindsamer Nerv und ihre wahr¬
scheinliche Ursache er in einer haarscharfen Bestimmung der verschiedenen
Volksstämme des russischen Reiches aufsucht und macht einen Gang
durch das „Pflegehaus" aller Bekümmerten, wie in Petersburg mit
einem milderen Worte unser hartes „Narrenhaus" genannt wird. Hier
schließt der erste Theil dieses Werkes, der Aerzten und Nichtärzten viele
wichtige wissenswerthe und interessante Erfahrungen und kritische Resul¬
tate aufgeschlossen, und der Verfasser geht nun auf die andere Krank¬
heit des kranken Petersburg: auf die Armuth über. Nun tritt er als
Publicist in volle Wirksamkeit, während früher mehr die ärztliche Beob¬
achtung sich geltend machte. Ein Staat ist nur dann reich und glück-
lich zu nennen, wenn die Wohlhabenheit gewissermaßen ein Erbgut
des gesammten Volkes ist; der Luxus der Reichen und Mächtigen:
ist nur der goldverbrämte Purpurlappen an dem gebornen Bettler-
mantel eines Staates, wie eben Rußland ist, wo der Pauperismus auf
eine fürchterliche Weise überHand genommen hat, und nicht durch «erecktl
Zugeständnisse von Seiten der Verwaltung verringert, sondern nur durch


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0495" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/184077"/>
            <p xml:id="ID_1404" prev="#ID_1403" next="#ID_1405"> Wirkungen und Bedingnisse, über die Petersburger Lebensweise und die<lb/>
durch diese speciell bedingten Schaulichkeiten, über eine statistische Ent-<lb/>
gcgenstellung der Geburth- und Sterbelisten, fährt zuletzt in die Frauen¬<lb/>
welt ein und sucht die Wahrscheinlichkeitsgründ- für jene die Mortalität<lb/>
der Männer um anderthalbmal überwiegende Sterblichkeit unter dem<lb/>
weiblichen Geschlecht in Petersburg aus, welche nach seinem Dafürhalten<lb/>
in der Staltseinrichtung selbst, in der üblichen Erziehungsweise überhaupt<lb/>
und vor Allem in den schädlichen Einflüssen eines heimtückischen Klimas,<lb/>
der Nahrung und Wohnung jener ihren «erderblichen Grund findet. Keine<lb/>
Stadt in Europa zahlt nach den gegebenen statistischen Ausweisen des<lb/>
Verfassers &#x201E;so wenig Trauungen im Verhältniß zur Einwohnermenge,<lb/>
als Se. Petersburg"; seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts bis zum<lb/>
Jahre 1830 stieg die Zahl der Einwohner von 220,000 auf 350,000,<lb/>
die Zahl der Ehebündnisse aber verringerte sich von 12,533 auf 11,129;<lb/>
außer dem Verhältniß jedoch steigt die Zahl jener leinene» entrstenues<lb/>
und der eigentlich Prostituirten, deren 14,000 unter specieller polizeilicher<lb/>
Aufsicht stehen. &#x201E;Die Befriedigung, welche der Mann für Her; und<lb/>
Sinn in illegaler Verbindungen sucht und findet, zerstört die Achtung<lb/>
der Welt und den moralischen Halt und untergräbt die Körpergesundheit<lb/>
der liebeleer verheiratheten Frau/' Von dieser kritischen Betrachtung, die<lb/>
tiefgehende und vollgültige Resultate geliefert, kommt er auf das siech--<lb/>
rhum in Petersburg selbst und auf die durch Jahreszeiten und Witterung<lb/>
bedingten Krankheitsconstitutionen wie auf die herrschenden Krankheiten<lb/>
im Besondern zu sprechen und macht eine Wanderung durch die Heil¬<lb/>
anstalten, durch die Militair- und öffentliche Hospitäler, Ministerialdepar-<lb/>
tements-. Civil- und Privathospitaler. Die palastähnliche Einrichtung<lb/>
derselben wird durch eine zweckwidrige Etiquette und despotisch ausartende<lb/>
Disciplin, die den Kranken Gefängnißstrafe und körperliche Züchtigungen<lb/>
aussetzt, beeinträchtigt und macht auch für den armen und hülflosen<lb/>
Kranken ihre unentgeldliche Pflege nicht wünschenswerth. Er enthüllt<lb/>
zuletzt die Geisteskrankheiten, deren empfindsamer Nerv und ihre wahr¬<lb/>
scheinliche Ursache er in einer haarscharfen Bestimmung der verschiedenen<lb/>
Volksstämme des russischen Reiches aufsucht und macht einen Gang<lb/>
durch das &#x201E;Pflegehaus" aller Bekümmerten, wie in Petersburg mit<lb/>
einem milderen Worte unser hartes &#x201E;Narrenhaus" genannt wird. Hier<lb/>
schließt der erste Theil dieses Werkes, der Aerzten und Nichtärzten viele<lb/>
wichtige wissenswerthe und interessante Erfahrungen und kritische Resul¬<lb/>
tate aufgeschlossen, und der Verfasser geht nun auf die andere Krank¬<lb/>
heit des kranken Petersburg: auf die Armuth über. Nun tritt er als<lb/>
Publicist in volle Wirksamkeit, während früher mehr die ärztliche Beob¬<lb/>
achtung sich geltend machte. Ein Staat ist nur dann reich und glück-<lb/>
lich zu nennen, wenn die Wohlhabenheit gewissermaßen ein Erbgut<lb/>
des gesammten Volkes ist; der Luxus der Reichen und Mächtigen:<lb/>
ist nur der goldverbrämte Purpurlappen an dem gebornen Bettler-<lb/>
mantel eines Staates, wie eben Rußland ist, wo der Pauperismus auf<lb/>
eine fürchterliche Weise überHand genommen hat, und nicht durch «erecktl<lb/>
Zugeständnisse von Seiten der Verwaltung verringert, sondern nur durch</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0495] Wirkungen und Bedingnisse, über die Petersburger Lebensweise und die durch diese speciell bedingten Schaulichkeiten, über eine statistische Ent- gcgenstellung der Geburth- und Sterbelisten, fährt zuletzt in die Frauen¬ welt ein und sucht die Wahrscheinlichkeitsgründ- für jene die Mortalität der Männer um anderthalbmal überwiegende Sterblichkeit unter dem weiblichen Geschlecht in Petersburg aus, welche nach seinem Dafürhalten in der Staltseinrichtung selbst, in der üblichen Erziehungsweise überhaupt und vor Allem in den schädlichen Einflüssen eines heimtückischen Klimas, der Nahrung und Wohnung jener ihren «erderblichen Grund findet. Keine Stadt in Europa zahlt nach den gegebenen statistischen Ausweisen des Verfassers „so wenig Trauungen im Verhältniß zur Einwohnermenge, als Se. Petersburg"; seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts bis zum Jahre 1830 stieg die Zahl der Einwohner von 220,000 auf 350,000, die Zahl der Ehebündnisse aber verringerte sich von 12,533 auf 11,129; außer dem Verhältniß jedoch steigt die Zahl jener leinene» entrstenues und der eigentlich Prostituirten, deren 14,000 unter specieller polizeilicher Aufsicht stehen. „Die Befriedigung, welche der Mann für Her; und Sinn in illegaler Verbindungen sucht und findet, zerstört die Achtung der Welt und den moralischen Halt und untergräbt die Körpergesundheit der liebeleer verheiratheten Frau/' Von dieser kritischen Betrachtung, die tiefgehende und vollgültige Resultate geliefert, kommt er auf das siech-- rhum in Petersburg selbst und auf die durch Jahreszeiten und Witterung bedingten Krankheitsconstitutionen wie auf die herrschenden Krankheiten im Besondern zu sprechen und macht eine Wanderung durch die Heil¬ anstalten, durch die Militair- und öffentliche Hospitäler, Ministerialdepar- tements-. Civil- und Privathospitaler. Die palastähnliche Einrichtung derselben wird durch eine zweckwidrige Etiquette und despotisch ausartende Disciplin, die den Kranken Gefängnißstrafe und körperliche Züchtigungen aussetzt, beeinträchtigt und macht auch für den armen und hülflosen Kranken ihre unentgeldliche Pflege nicht wünschenswerth. Er enthüllt zuletzt die Geisteskrankheiten, deren empfindsamer Nerv und ihre wahr¬ scheinliche Ursache er in einer haarscharfen Bestimmung der verschiedenen Volksstämme des russischen Reiches aufsucht und macht einen Gang durch das „Pflegehaus" aller Bekümmerten, wie in Petersburg mit einem milderen Worte unser hartes „Narrenhaus" genannt wird. Hier schließt der erste Theil dieses Werkes, der Aerzten und Nichtärzten viele wichtige wissenswerthe und interessante Erfahrungen und kritische Resul¬ tate aufgeschlossen, und der Verfasser geht nun auf die andere Krank¬ heit des kranken Petersburg: auf die Armuth über. Nun tritt er als Publicist in volle Wirksamkeit, während früher mehr die ärztliche Beob¬ achtung sich geltend machte. Ein Staat ist nur dann reich und glück- lich zu nennen, wenn die Wohlhabenheit gewissermaßen ein Erbgut des gesammten Volkes ist; der Luxus der Reichen und Mächtigen: ist nur der goldverbrämte Purpurlappen an dem gebornen Bettler- mantel eines Staates, wie eben Rußland ist, wo der Pauperismus auf eine fürchterliche Weise überHand genommen hat, und nicht durch «erecktl Zugeständnisse von Seiten der Verwaltung verringert, sondern nur durch

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/495
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/495>, abgerufen am 26.08.2024.