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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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Ungeschicklichkeit mochte sie wohl dazu berechtigen. Außerdem ging ich
meiner Gewohnheit nach viel allein spazieren und überließ mich meinen
Träumereien. An den Besuch von Wirthshäusern war ich nicht ge¬
wöhnt, und so lebte ick ein ziemlich unschuldiges, angenehmes Leben.
Das Theater bot täglich Neues und Abwechselndes, und zum eigent¬
lichen Nachdenken über mein Treiben und meine Seelenzustände ge¬
langte ich nicht., Mit meinen Geldangelegenheiten sah es freilich nicht
zum Besten aus. Ich schrieb Rollen ab, um mir nebenbei etwas zu
verdienen, doch das reichte auch nicht weit. So kam ich von Stadt
zu Stadt, mußte hier meine Uhr, dort meine Tuchnadeln, da ein Klei¬
dungsstück, anderswo einen Theil Wäsche opfern, um die wenigen
Thaler Schulden zu bezahlen, die ich hatte, bis endlich der Director
zum Ueberfluß davon ging, die ganze Sache sich auflöste und ich mit
dem Verlust des Gehalts für sechs Wochen plötzlich ohne Anstellung
in der Welt stand. Ich hatte jetzt gar nichts mehr, meine Wäsche,
meine Kleider, bis auf den Anzug, den ich am Leibe trug, waren ver¬
loren und ich stand ziemlich rathlos da. Es war das erste Mal, daß
der Ernst des Lebens recht ordentlich über mich kam. Ich wußte
nicht, wohin ich mich wenden sollte, ich hatte nicht den rechten Muth,
mich an ein größeres Theater zu wenden, weil ich mir nichts zutraute.
So viel war mir klar, bei einem guten, stehenden Theater konnte ich
nur als Chorist ankommen, und so viel wußte ich auch bereits, daß
es bei einem solchen Theater unendlich schwer hält, aus dem Chöre
hervor zu etwas zu gelangen, und daß ich also offenbar einen Rück¬
schritt thun würde, träte ich da irgend wo im Chöre ein. Ein halbes
Jahr habe ich da mit der fürchterlichsten Noth gekämpft; wohin ich
mich wandte, erhielt ich abschlägliche Antwort, ja zuletzt, als mir auch
Chorsteller abgeschlagen wurden, wußte ich nicht mehr, was anfangen.
Endlich ward mir durch eine Vermittlung bei-einem kleinen, reisenden
Theater die Stelle als erster Tenorist angetragen. Als erster Tenorist?
Das gesuchteste, seltenste Fach? Es war Verwegenheit, lächerlicher
Uebermuth, das nur zu denken. Und doch, was wollte ich machen?
Sollte ich das Anerbieten ausschlagen? Ich .Hatte nirgends eine Aus¬
sicht, der Gedanke, der Bühne zu entsagen, war mir unerträglich --
ich beschloß, auf den Vorschlag einzugehen. So viel Stimme, um
nicht zu hohen Anforderungen zu entsprechen, besaß ich, musikalische
Kenntnisse gingen mir auch nicht ab, auf mein rasch fassendes Ge¬
dächtniß konnte ich mich verlassen -- und so reiste ich getrosten Muthes
nach Ahornstadt, wo die kleine Gesellschaft, die einen ersten Tenor


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Ungeschicklichkeit mochte sie wohl dazu berechtigen. Außerdem ging ich
meiner Gewohnheit nach viel allein spazieren und überließ mich meinen
Träumereien. An den Besuch von Wirthshäusern war ich nicht ge¬
wöhnt, und so lebte ick ein ziemlich unschuldiges, angenehmes Leben.
Das Theater bot täglich Neues und Abwechselndes, und zum eigent¬
lichen Nachdenken über mein Treiben und meine Seelenzustände ge¬
langte ich nicht., Mit meinen Geldangelegenheiten sah es freilich nicht
zum Besten aus. Ich schrieb Rollen ab, um mir nebenbei etwas zu
verdienen, doch das reichte auch nicht weit. So kam ich von Stadt
zu Stadt, mußte hier meine Uhr, dort meine Tuchnadeln, da ein Klei¬
dungsstück, anderswo einen Theil Wäsche opfern, um die wenigen
Thaler Schulden zu bezahlen, die ich hatte, bis endlich der Director
zum Ueberfluß davon ging, die ganze Sache sich auflöste und ich mit
dem Verlust des Gehalts für sechs Wochen plötzlich ohne Anstellung
in der Welt stand. Ich hatte jetzt gar nichts mehr, meine Wäsche,
meine Kleider, bis auf den Anzug, den ich am Leibe trug, waren ver¬
loren und ich stand ziemlich rathlos da. Es war das erste Mal, daß
der Ernst des Lebens recht ordentlich über mich kam. Ich wußte
nicht, wohin ich mich wenden sollte, ich hatte nicht den rechten Muth,
mich an ein größeres Theater zu wenden, weil ich mir nichts zutraute.
So viel war mir klar, bei einem guten, stehenden Theater konnte ich
nur als Chorist ankommen, und so viel wußte ich auch bereits, daß
es bei einem solchen Theater unendlich schwer hält, aus dem Chöre
hervor zu etwas zu gelangen, und daß ich also offenbar einen Rück¬
schritt thun würde, träte ich da irgend wo im Chöre ein. Ein halbes
Jahr habe ich da mit der fürchterlichsten Noth gekämpft; wohin ich
mich wandte, erhielt ich abschlägliche Antwort, ja zuletzt, als mir auch
Chorsteller abgeschlagen wurden, wußte ich nicht mehr, was anfangen.
Endlich ward mir durch eine Vermittlung bei-einem kleinen, reisenden
Theater die Stelle als erster Tenorist angetragen. Als erster Tenorist?
Das gesuchteste, seltenste Fach? Es war Verwegenheit, lächerlicher
Uebermuth, das nur zu denken. Und doch, was wollte ich machen?
Sollte ich das Anerbieten ausschlagen? Ich .Hatte nirgends eine Aus¬
sicht, der Gedanke, der Bühne zu entsagen, war mir unerträglich —
ich beschloß, auf den Vorschlag einzugehen. So viel Stimme, um
nicht zu hohen Anforderungen zu entsprechen, besaß ich, musikalische
Kenntnisse gingen mir auch nicht ab, auf mein rasch fassendes Ge¬
dächtniß konnte ich mich verlassen — und so reiste ich getrosten Muthes
nach Ahornstadt, wo die kleine Gesellschaft, die einen ersten Tenor


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/431>, abgerufen am 23.07.2024.