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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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Alle diese Sachen waren um nicht etwa eingeschlichene Mi߬
bräuche, oder zufällig von Einzelneir geübte Ungerechtigkeiten, nein, für
sie bestanden streng festgesetzte Formen. Sie waren aufgezeichnet in
einer förmliche,: Urkunde, welche mit dem Namen "die Rechte" be¬
zeichnet wurde. Früher mochten die Unterdrückungen der Untern noch
schlimmer gewesen sein, und so viel ich mir habe erzählen lassen, ist
wegen dieser Unterdrückungen ein Mal ein förmlicher Krieg und Auf¬
stand in der Schule ausgebrochen, der, ohne zur Kenntniß der Lehrer
zu kommen, unter den Schülern selbst ausgefochten wurde und mit
einem förmlichen Friedensschlüsse endigte. Dieser Friedensschluß war
nichts anders als die Feststellung der erzählten Rechte und die förm¬
liche Verfassung war der Frieoensvertrag. Um dies Alles noch feier¬
licher und bestimmter zu machen, waren, echt deutsch, die lächerlichsten
Formen erfunden worden. So durfte ein Inspektor oder Primus, der
eine Strafe verhängte, niemals mit dem Bestraften sprechen, selbst
nicht, wenn er ihm die Strafe auferlegte oder durch Ueberhören sich
von der Ausführung der Strafausgabe überzeugte. Dazu waren be¬
stimmte Mittelspersonen erforderlich, Syndicus genannt, welche wie
ein Dolmetscher die Fragen und Antworten zwischen den beiden neben
einander stehenden Personen vermittelten.

Wären alle diese Sachen kindische Dummheiten gewesen, so wäre
nicht viel darüber zu sagen, allein offenbar übten sie den schädlichsten
Einfluß auf den Charakter der Schüler. Die vielfachen Ungerechtig¬
keiten, welche die Untern ertragen mußten, verbitterten dieselben nött)-
wendig, führten zu Liebedienerei und Speichelleckerei. Und umgekehrt
wurden dann die Untern, wenn sie in obere Abtheilungen hinansrückten,
selbst die ärgsten Unterdrücker, und rächten sich für die erduldete Unbill
an denen, die ihnen nun untergeben waren. Man betrachte die Sache
nicht blos von der lächerlichen Seite -- sie hat auch eine sehr ernste.
Der Rechts Sinn ist eS, der durch diese Geschichten unterdrückt wird,
der Rechtssinn aber ist eine zarte Pflanze, die namentlich in jungen
Gemüthern gepflegt werden soll. Und der Rechtssinn ist das Haupt-
erforderniß für Leute, die später im Staate richterliche oder Verwal¬
tungsstellen bekleiden sollen. Hier kann die Frage aufgeworfen werden,
ob die Lehrer um diese Unbilligkeiten wußten und ob eine Anzeige
bei denselben nicht zu einer Abhülfe hätte führen können? Was eine
Anzeige betrifft, so ist eine solche unmöglich, denn die Schüler finden
tausend Gelegenheiten, einem Angeber das Leben satter zu machen.
Das weiß Jeder und schweigt. Was eine Mitwissenschast der Lehrer


Alle diese Sachen waren um nicht etwa eingeschlichene Mi߬
bräuche, oder zufällig von Einzelneir geübte Ungerechtigkeiten, nein, für
sie bestanden streng festgesetzte Formen. Sie waren aufgezeichnet in
einer förmliche,: Urkunde, welche mit dem Namen „die Rechte" be¬
zeichnet wurde. Früher mochten die Unterdrückungen der Untern noch
schlimmer gewesen sein, und so viel ich mir habe erzählen lassen, ist
wegen dieser Unterdrückungen ein Mal ein förmlicher Krieg und Auf¬
stand in der Schule ausgebrochen, der, ohne zur Kenntniß der Lehrer
zu kommen, unter den Schülern selbst ausgefochten wurde und mit
einem förmlichen Friedensschlüsse endigte. Dieser Friedensschluß war
nichts anders als die Feststellung der erzählten Rechte und die förm¬
liche Verfassung war der Frieoensvertrag. Um dies Alles noch feier¬
licher und bestimmter zu machen, waren, echt deutsch, die lächerlichsten
Formen erfunden worden. So durfte ein Inspektor oder Primus, der
eine Strafe verhängte, niemals mit dem Bestraften sprechen, selbst
nicht, wenn er ihm die Strafe auferlegte oder durch Ueberhören sich
von der Ausführung der Strafausgabe überzeugte. Dazu waren be¬
stimmte Mittelspersonen erforderlich, Syndicus genannt, welche wie
ein Dolmetscher die Fragen und Antworten zwischen den beiden neben
einander stehenden Personen vermittelten.

Wären alle diese Sachen kindische Dummheiten gewesen, so wäre
nicht viel darüber zu sagen, allein offenbar übten sie den schädlichsten
Einfluß auf den Charakter der Schüler. Die vielfachen Ungerechtig¬
keiten, welche die Untern ertragen mußten, verbitterten dieselben nött)-
wendig, führten zu Liebedienerei und Speichelleckerei. Und umgekehrt
wurden dann die Untern, wenn sie in obere Abtheilungen hinansrückten,
selbst die ärgsten Unterdrücker, und rächten sich für die erduldete Unbill
an denen, die ihnen nun untergeben waren. Man betrachte die Sache
nicht blos von der lächerlichen Seite — sie hat auch eine sehr ernste.
Der Rechts Sinn ist eS, der durch diese Geschichten unterdrückt wird,
der Rechtssinn aber ist eine zarte Pflanze, die namentlich in jungen
Gemüthern gepflegt werden soll. Und der Rechtssinn ist das Haupt-
erforderniß für Leute, die später im Staate richterliche oder Verwal¬
tungsstellen bekleiden sollen. Hier kann die Frage aufgeworfen werden,
ob die Lehrer um diese Unbilligkeiten wußten und ob eine Anzeige
bei denselben nicht zu einer Abhülfe hätte führen können? Was eine
Anzeige betrifft, so ist eine solche unmöglich, denn die Schüler finden
tausend Gelegenheiten, einem Angeber das Leben satter zu machen.
Das weiß Jeder und schweigt. Was eine Mitwissenschast der Lehrer


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[0424] Alle diese Sachen waren um nicht etwa eingeschlichene Mi߬ bräuche, oder zufällig von Einzelneir geübte Ungerechtigkeiten, nein, für sie bestanden streng festgesetzte Formen. Sie waren aufgezeichnet in einer förmliche,: Urkunde, welche mit dem Namen „die Rechte" be¬ zeichnet wurde. Früher mochten die Unterdrückungen der Untern noch schlimmer gewesen sein, und so viel ich mir habe erzählen lassen, ist wegen dieser Unterdrückungen ein Mal ein förmlicher Krieg und Auf¬ stand in der Schule ausgebrochen, der, ohne zur Kenntniß der Lehrer zu kommen, unter den Schülern selbst ausgefochten wurde und mit einem förmlichen Friedensschlüsse endigte. Dieser Friedensschluß war nichts anders als die Feststellung der erzählten Rechte und die förm¬ liche Verfassung war der Frieoensvertrag. Um dies Alles noch feier¬ licher und bestimmter zu machen, waren, echt deutsch, die lächerlichsten Formen erfunden worden. So durfte ein Inspektor oder Primus, der eine Strafe verhängte, niemals mit dem Bestraften sprechen, selbst nicht, wenn er ihm die Strafe auferlegte oder durch Ueberhören sich von der Ausführung der Strafausgabe überzeugte. Dazu waren be¬ stimmte Mittelspersonen erforderlich, Syndicus genannt, welche wie ein Dolmetscher die Fragen und Antworten zwischen den beiden neben einander stehenden Personen vermittelten. Wären alle diese Sachen kindische Dummheiten gewesen, so wäre nicht viel darüber zu sagen, allein offenbar übten sie den schädlichsten Einfluß auf den Charakter der Schüler. Die vielfachen Ungerechtig¬ keiten, welche die Untern ertragen mußten, verbitterten dieselben nött)- wendig, führten zu Liebedienerei und Speichelleckerei. Und umgekehrt wurden dann die Untern, wenn sie in obere Abtheilungen hinansrückten, selbst die ärgsten Unterdrücker, und rächten sich für die erduldete Unbill an denen, die ihnen nun untergeben waren. Man betrachte die Sache nicht blos von der lächerlichen Seite — sie hat auch eine sehr ernste. Der Rechts Sinn ist eS, der durch diese Geschichten unterdrückt wird, der Rechtssinn aber ist eine zarte Pflanze, die namentlich in jungen Gemüthern gepflegt werden soll. Und der Rechtssinn ist das Haupt- erforderniß für Leute, die später im Staate richterliche oder Verwal¬ tungsstellen bekleiden sollen. Hier kann die Frage aufgeworfen werden, ob die Lehrer um diese Unbilligkeiten wußten und ob eine Anzeige bei denselben nicht zu einer Abhülfe hätte führen können? Was eine Anzeige betrifft, so ist eine solche unmöglich, denn die Schüler finden tausend Gelegenheiten, einem Angeber das Leben satter zu machen. Das weiß Jeder und schweigt. Was eine Mitwissenschast der Lehrer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/424>, abgerufen am 23.07.2024.