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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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sich ergeben mußten, oft im Spiele waren, läßt sich leicht deuten.
Niemand erkennt seines Gleichen für seinen Richter, und so ward das
Rechtsgefühl der jungen Leute fort und fort verletzt.

Schlimmer noch gestalteten sich zwei andere Umstände. Durch
die Abstufung der unrechtlichen Rechte hatte sich ein wahrer Kastengeist
gebildet und die Schüler der oberen Klassen sahen auf die unteren
Klassen mit derselben Verachtung herab, wie ein ahnenstolzer Kraut¬
junker auf seine Jagdtreiber.

Aus dieser Verachtung war denn ein Recht der Rache oder Selbst-
hülfe entstanden. Hatte nämlich ein Schüler der untern Klasse die
Dreistigkeit, einen der obern Klassen zu beleidigen oder das Unglück,
in Mienen oder Worten etwas zu thun, was den Obern für Belei¬
digung zu nehmen beliebte, und was fast bei jedem bloßen Widerspruch
der Fall war, so verlangte der Obere ohne weitere Verhandlung bei
den Inspektoren oder sonst zu Strafen Berechtigten die Bestrafung des
Untern. Diese erfolgte auf die einfache Forderung jedes Mal, ohne
daß nur eine Vertheidigung gestatter war, und mancher arme Tertianer
mußte nicht selten seine wenigen Freistunden dazu anwenden, fünfzig
Verse aus dem Homer auswendig zu lernen, weil er einen Obern
aus Versehen gestoßen oder auf die Hühneraugen getreten hatte. Wäre
in solchen Fällen eine Vertheidigung gestattet gewesen und nach förm¬
licher Verhandlung ein Urtheilsspruch erfolgt, so hätte es angehen
mögen, aber so war es die empörendste Ungerechtigkeit, und das Rechts¬
gefühl der jungen Leute ward auf das schreiendste verletzt.

Ein zweiter Umstand fand sich bei dem Essen. An zehn Tischen
ward gespeist, an jedem saßen zwölf Schüler so, daß an jeden Tisch
eine möglichst gleiche Anzahl von Primanern, Secundanern, Tertia¬
nern und Quartanern kam. Das Vorschreiten und Vertheilen war
dann das Amt der beiden ältesten Primaner am Tische. Dies Ver¬
theilen geschah dann so: Von Fleisch bekamen die Primaner die besten
Stücke, die Secundaner noch Fleisch, die Tertianer und Quartaner
Knochen. Von Butter, wo auf jeden ein Zwölftel rechtlich kam (die
langen Brote, auf welchen die Butter in Form einer Wurst ausgetra¬
gen wurde, waren mit förmlichen Rinnen in zwölf gleiche Theile ein¬
getheilt), erhielten die drei am Tische sitzenden Primaner sieben Zwölftel,
die drei Secundaner drei Zwölftel und die sechs Tertianer und Quar¬
taner zusammen ein Zwölftel. In gleichem Verhältniß ward alles
Uebrige ausgetheilt. Diese offenbare Verkürzung der Untern war
gleichfalls verfassungsmäßiges Recht.


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sich ergeben mußten, oft im Spiele waren, läßt sich leicht deuten.
Niemand erkennt seines Gleichen für seinen Richter, und so ward das
Rechtsgefühl der jungen Leute fort und fort verletzt.

Schlimmer noch gestalteten sich zwei andere Umstände. Durch
die Abstufung der unrechtlichen Rechte hatte sich ein wahrer Kastengeist
gebildet und die Schüler der oberen Klassen sahen auf die unteren
Klassen mit derselben Verachtung herab, wie ein ahnenstolzer Kraut¬
junker auf seine Jagdtreiber.

Aus dieser Verachtung war denn ein Recht der Rache oder Selbst-
hülfe entstanden. Hatte nämlich ein Schüler der untern Klasse die
Dreistigkeit, einen der obern Klassen zu beleidigen oder das Unglück,
in Mienen oder Worten etwas zu thun, was den Obern für Belei¬
digung zu nehmen beliebte, und was fast bei jedem bloßen Widerspruch
der Fall war, so verlangte der Obere ohne weitere Verhandlung bei
den Inspektoren oder sonst zu Strafen Berechtigten die Bestrafung des
Untern. Diese erfolgte auf die einfache Forderung jedes Mal, ohne
daß nur eine Vertheidigung gestatter war, und mancher arme Tertianer
mußte nicht selten seine wenigen Freistunden dazu anwenden, fünfzig
Verse aus dem Homer auswendig zu lernen, weil er einen Obern
aus Versehen gestoßen oder auf die Hühneraugen getreten hatte. Wäre
in solchen Fällen eine Vertheidigung gestattet gewesen und nach förm¬
licher Verhandlung ein Urtheilsspruch erfolgt, so hätte es angehen
mögen, aber so war es die empörendste Ungerechtigkeit, und das Rechts¬
gefühl der jungen Leute ward auf das schreiendste verletzt.

Ein zweiter Umstand fand sich bei dem Essen. An zehn Tischen
ward gespeist, an jedem saßen zwölf Schüler so, daß an jeden Tisch
eine möglichst gleiche Anzahl von Primanern, Secundanern, Tertia¬
nern und Quartanern kam. Das Vorschreiten und Vertheilen war
dann das Amt der beiden ältesten Primaner am Tische. Dies Ver¬
theilen geschah dann so: Von Fleisch bekamen die Primaner die besten
Stücke, die Secundaner noch Fleisch, die Tertianer und Quartaner
Knochen. Von Butter, wo auf jeden ein Zwölftel rechtlich kam (die
langen Brote, auf welchen die Butter in Form einer Wurst ausgetra¬
gen wurde, waren mit förmlichen Rinnen in zwölf gleiche Theile ein¬
getheilt), erhielten die drei am Tische sitzenden Primaner sieben Zwölftel,
die drei Secundaner drei Zwölftel und die sechs Tertianer und Quar¬
taner zusammen ein Zwölftel. In gleichem Verhältniß ward alles
Uebrige ausgetheilt. Diese offenbare Verkürzung der Untern war
gleichfalls verfassungsmäßiges Recht.


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[0423] sich ergeben mußten, oft im Spiele waren, läßt sich leicht deuten. Niemand erkennt seines Gleichen für seinen Richter, und so ward das Rechtsgefühl der jungen Leute fort und fort verletzt. Schlimmer noch gestalteten sich zwei andere Umstände. Durch die Abstufung der unrechtlichen Rechte hatte sich ein wahrer Kastengeist gebildet und die Schüler der oberen Klassen sahen auf die unteren Klassen mit derselben Verachtung herab, wie ein ahnenstolzer Kraut¬ junker auf seine Jagdtreiber. Aus dieser Verachtung war denn ein Recht der Rache oder Selbst- hülfe entstanden. Hatte nämlich ein Schüler der untern Klasse die Dreistigkeit, einen der obern Klassen zu beleidigen oder das Unglück, in Mienen oder Worten etwas zu thun, was den Obern für Belei¬ digung zu nehmen beliebte, und was fast bei jedem bloßen Widerspruch der Fall war, so verlangte der Obere ohne weitere Verhandlung bei den Inspektoren oder sonst zu Strafen Berechtigten die Bestrafung des Untern. Diese erfolgte auf die einfache Forderung jedes Mal, ohne daß nur eine Vertheidigung gestatter war, und mancher arme Tertianer mußte nicht selten seine wenigen Freistunden dazu anwenden, fünfzig Verse aus dem Homer auswendig zu lernen, weil er einen Obern aus Versehen gestoßen oder auf die Hühneraugen getreten hatte. Wäre in solchen Fällen eine Vertheidigung gestattet gewesen und nach förm¬ licher Verhandlung ein Urtheilsspruch erfolgt, so hätte es angehen mögen, aber so war es die empörendste Ungerechtigkeit, und das Rechts¬ gefühl der jungen Leute ward auf das schreiendste verletzt. Ein zweiter Umstand fand sich bei dem Essen. An zehn Tischen ward gespeist, an jedem saßen zwölf Schüler so, daß an jeden Tisch eine möglichst gleiche Anzahl von Primanern, Secundanern, Tertia¬ nern und Quartanern kam. Das Vorschreiten und Vertheilen war dann das Amt der beiden ältesten Primaner am Tische. Dies Ver¬ theilen geschah dann so: Von Fleisch bekamen die Primaner die besten Stücke, die Secundaner noch Fleisch, die Tertianer und Quartaner Knochen. Von Butter, wo auf jeden ein Zwölftel rechtlich kam (die langen Brote, auf welchen die Butter in Form einer Wurst ausgetra¬ gen wurde, waren mit förmlichen Rinnen in zwölf gleiche Theile ein¬ getheilt), erhielten die drei am Tische sitzenden Primaner sieben Zwölftel, die drei Secundaner drei Zwölftel und die sechs Tertianer und Quar¬ taner zusammen ein Zwölftel. In gleichem Verhältniß ward alles Uebrige ausgetheilt. Diese offenbare Verkürzung der Untern war gleichfalls verfassungsmäßiges Recht. 56*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/423>, abgerufen am 23.07.2024.