Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

fassung aber den Primanern erlaubt. Die Schüler der zweiten Ab-
theilung besaßen diese Rechte nur zum Theil oder waren bei Ausübung
derselben an gewisse lächerliche Formen gebunden. Sie durften Tabak
rauchen, aber nicht aussteigen, sie dursten in den Arbeitsstunden nicht
mit einander sprechen, wohl aber aufstehen und sich ein Buch geben.
Thaten sie aber das Letztere, so mußten sie an die Thüre gehen und
mit dem Fuße anstoßen, zum Zeichen, daß sie nicht die vollkommenen
Rechte eines Primaners besaßen.

Die Schüler der dritten und vierten Abtheilung hatten alle diese
Rechte nicht. Sie durften weder Tabak rauchen, noch aussteigen, noch
Romane lesen, noch heimlich Kaffee trinken, noch ohne Erlaubniß des
Tischinspectors in den Arbeitsstunden aufstehen, noch überhaupt sonst
etwas -- sie waren mit der äußersten Strenge an die Schulordnung
überhaupt gebunden, während die Schüler der zweiten Abtheilung zum
Theil, die Schüler der ersten sich ganz und gar über diese Schulgesetze
wegsetzen durften, ohne von den Inspektoren zur Strafe gezogen oder
zur Anzeige gebracht zu werden. Im Ganzen war dies ein natür¬
liches Ergebniß. Der Schulzwang war so lästig und unerträglich,
daß eine Auflehnung dagegen sich als natürliche Folge ergab. Hätten
sämmtliche Schüler über die Schnur gehauen, so würde in kurzer Zeit
alle Zucht und Ordnung aufgehört haben; die für die Ordnung ver-
antwortlichen Inspektoren hielten also die untern Abtheilungen in
strengster Zucht und ließen nur gegen die ältern Schüler Nachsicht
eintreten. Damit nun auch in dieser Unordnung eine Ordnung bestehe,
waren die Grenzen dieser Unordnung auf das Genaueste bestimmt, und
so hielt sich die Sache. So weit mochte sie auch ganz gut gewesen
sein, wenn sie nicht zu förmlicher Unterdrückung der Untern und Jün¬
gern geführt hätte. Diese Unterdrückung fand in mehrfacher Hin¬
sicht statt.

Die Inspektoren trugen ihre Strafgewalt, die ihnen unbequem
wurde, auf die Ersten in Hen Abtheilungen über, welche um ihrerseits
eine Art von kleiner Disciplin übten. Hatte Jemand in den Unter¬
richtsstunden geplaudert u. tgi., so strafte ihn dafür der Erste seiner
Klasse, indem er ihm in einer Freistunde aufgab, zwanzig Verse aus
dem Homer oder Virgil zu übersetzen oder auswendig zu lernen. Hier
war Ankläger, Richter und vollziehende Gewalt in einer Person, und
gegen ein solches Urtheil gab eS keine Berufung. Daß hier die
schreiendsten Ungerechtigkeiten verübt wurden, daß hier persönliche
Mißverhältnisse,'die bei einem so engen Zusammenleben nothwendig


fassung aber den Primanern erlaubt. Die Schüler der zweiten Ab-
theilung besaßen diese Rechte nur zum Theil oder waren bei Ausübung
derselben an gewisse lächerliche Formen gebunden. Sie durften Tabak
rauchen, aber nicht aussteigen, sie dursten in den Arbeitsstunden nicht
mit einander sprechen, wohl aber aufstehen und sich ein Buch geben.
Thaten sie aber das Letztere, so mußten sie an die Thüre gehen und
mit dem Fuße anstoßen, zum Zeichen, daß sie nicht die vollkommenen
Rechte eines Primaners besaßen.

Die Schüler der dritten und vierten Abtheilung hatten alle diese
Rechte nicht. Sie durften weder Tabak rauchen, noch aussteigen, noch
Romane lesen, noch heimlich Kaffee trinken, noch ohne Erlaubniß des
Tischinspectors in den Arbeitsstunden aufstehen, noch überhaupt sonst
etwas — sie waren mit der äußersten Strenge an die Schulordnung
überhaupt gebunden, während die Schüler der zweiten Abtheilung zum
Theil, die Schüler der ersten sich ganz und gar über diese Schulgesetze
wegsetzen durften, ohne von den Inspektoren zur Strafe gezogen oder
zur Anzeige gebracht zu werden. Im Ganzen war dies ein natür¬
liches Ergebniß. Der Schulzwang war so lästig und unerträglich,
daß eine Auflehnung dagegen sich als natürliche Folge ergab. Hätten
sämmtliche Schüler über die Schnur gehauen, so würde in kurzer Zeit
alle Zucht und Ordnung aufgehört haben; die für die Ordnung ver-
antwortlichen Inspektoren hielten also die untern Abtheilungen in
strengster Zucht und ließen nur gegen die ältern Schüler Nachsicht
eintreten. Damit nun auch in dieser Unordnung eine Ordnung bestehe,
waren die Grenzen dieser Unordnung auf das Genaueste bestimmt, und
so hielt sich die Sache. So weit mochte sie auch ganz gut gewesen
sein, wenn sie nicht zu förmlicher Unterdrückung der Untern und Jün¬
gern geführt hätte. Diese Unterdrückung fand in mehrfacher Hin¬
sicht statt.

Die Inspektoren trugen ihre Strafgewalt, die ihnen unbequem
wurde, auf die Ersten in Hen Abtheilungen über, welche um ihrerseits
eine Art von kleiner Disciplin übten. Hatte Jemand in den Unter¬
richtsstunden geplaudert u. tgi., so strafte ihn dafür der Erste seiner
Klasse, indem er ihm in einer Freistunde aufgab, zwanzig Verse aus
dem Homer oder Virgil zu übersetzen oder auswendig zu lernen. Hier
war Ankläger, Richter und vollziehende Gewalt in einer Person, und
gegen ein solches Urtheil gab eS keine Berufung. Daß hier die
schreiendsten Ungerechtigkeiten verübt wurden, daß hier persönliche
Mißverhältnisse,'die bei einem so engen Zusammenleben nothwendig


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0422" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/184004"/>
            <p xml:id="ID_1238" prev="#ID_1237"> fassung aber den Primanern erlaubt. Die Schüler der zweiten Ab-<lb/>
theilung besaßen diese Rechte nur zum Theil oder waren bei Ausübung<lb/>
derselben an gewisse lächerliche Formen gebunden. Sie durften Tabak<lb/>
rauchen, aber nicht aussteigen, sie dursten in den Arbeitsstunden nicht<lb/>
mit einander sprechen, wohl aber aufstehen und sich ein Buch geben.<lb/>
Thaten sie aber das Letztere, so mußten sie an die Thüre gehen und<lb/>
mit dem Fuße anstoßen, zum Zeichen, daß sie nicht die vollkommenen<lb/>
Rechte eines Primaners besaßen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1239"> Die Schüler der dritten und vierten Abtheilung hatten alle diese<lb/>
Rechte nicht. Sie durften weder Tabak rauchen, noch aussteigen, noch<lb/>
Romane lesen, noch heimlich Kaffee trinken, noch ohne Erlaubniß des<lb/>
Tischinspectors in den Arbeitsstunden aufstehen, noch überhaupt sonst<lb/>
etwas &#x2014; sie waren mit der äußersten Strenge an die Schulordnung<lb/>
überhaupt gebunden, während die Schüler der zweiten Abtheilung zum<lb/>
Theil, die Schüler der ersten sich ganz und gar über diese Schulgesetze<lb/>
wegsetzen durften, ohne von den Inspektoren zur Strafe gezogen oder<lb/>
zur Anzeige gebracht zu werden. Im Ganzen war dies ein natür¬<lb/>
liches Ergebniß. Der Schulzwang war so lästig und unerträglich,<lb/>
daß eine Auflehnung dagegen sich als natürliche Folge ergab. Hätten<lb/>
sämmtliche Schüler über die Schnur gehauen, so würde in kurzer Zeit<lb/>
alle Zucht und Ordnung aufgehört haben; die für die Ordnung ver-<lb/>
antwortlichen Inspektoren hielten also die untern Abtheilungen in<lb/>
strengster Zucht und ließen nur gegen die ältern Schüler Nachsicht<lb/>
eintreten. Damit nun auch in dieser Unordnung eine Ordnung bestehe,<lb/>
waren die Grenzen dieser Unordnung auf das Genaueste bestimmt, und<lb/>
so hielt sich die Sache. So weit mochte sie auch ganz gut gewesen<lb/>
sein, wenn sie nicht zu förmlicher Unterdrückung der Untern und Jün¬<lb/>
gern geführt hätte. Diese Unterdrückung fand in mehrfacher Hin¬<lb/>
sicht statt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1240" next="#ID_1241"> Die Inspektoren trugen ihre Strafgewalt, die ihnen unbequem<lb/>
wurde, auf die Ersten in Hen Abtheilungen über, welche um ihrerseits<lb/>
eine Art von kleiner Disciplin übten. Hatte Jemand in den Unter¬<lb/>
richtsstunden geplaudert u. tgi., so strafte ihn dafür der Erste seiner<lb/>
Klasse, indem er ihm in einer Freistunde aufgab, zwanzig Verse aus<lb/>
dem Homer oder Virgil zu übersetzen oder auswendig zu lernen. Hier<lb/>
war Ankläger, Richter und vollziehende Gewalt in einer Person, und<lb/>
gegen ein solches Urtheil gab eS keine Berufung. Daß hier die<lb/>
schreiendsten Ungerechtigkeiten verübt wurden, daß hier persönliche<lb/>
Mißverhältnisse,'die bei einem so engen Zusammenleben nothwendig</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0422] fassung aber den Primanern erlaubt. Die Schüler der zweiten Ab- theilung besaßen diese Rechte nur zum Theil oder waren bei Ausübung derselben an gewisse lächerliche Formen gebunden. Sie durften Tabak rauchen, aber nicht aussteigen, sie dursten in den Arbeitsstunden nicht mit einander sprechen, wohl aber aufstehen und sich ein Buch geben. Thaten sie aber das Letztere, so mußten sie an die Thüre gehen und mit dem Fuße anstoßen, zum Zeichen, daß sie nicht die vollkommenen Rechte eines Primaners besaßen. Die Schüler der dritten und vierten Abtheilung hatten alle diese Rechte nicht. Sie durften weder Tabak rauchen, noch aussteigen, noch Romane lesen, noch heimlich Kaffee trinken, noch ohne Erlaubniß des Tischinspectors in den Arbeitsstunden aufstehen, noch überhaupt sonst etwas — sie waren mit der äußersten Strenge an die Schulordnung überhaupt gebunden, während die Schüler der zweiten Abtheilung zum Theil, die Schüler der ersten sich ganz und gar über diese Schulgesetze wegsetzen durften, ohne von den Inspektoren zur Strafe gezogen oder zur Anzeige gebracht zu werden. Im Ganzen war dies ein natür¬ liches Ergebniß. Der Schulzwang war so lästig und unerträglich, daß eine Auflehnung dagegen sich als natürliche Folge ergab. Hätten sämmtliche Schüler über die Schnur gehauen, so würde in kurzer Zeit alle Zucht und Ordnung aufgehört haben; die für die Ordnung ver- antwortlichen Inspektoren hielten also die untern Abtheilungen in strengster Zucht und ließen nur gegen die ältern Schüler Nachsicht eintreten. Damit nun auch in dieser Unordnung eine Ordnung bestehe, waren die Grenzen dieser Unordnung auf das Genaueste bestimmt, und so hielt sich die Sache. So weit mochte sie auch ganz gut gewesen sein, wenn sie nicht zu förmlicher Unterdrückung der Untern und Jün¬ gern geführt hätte. Diese Unterdrückung fand in mehrfacher Hin¬ sicht statt. Die Inspektoren trugen ihre Strafgewalt, die ihnen unbequem wurde, auf die Ersten in Hen Abtheilungen über, welche um ihrerseits eine Art von kleiner Disciplin übten. Hatte Jemand in den Unter¬ richtsstunden geplaudert u. tgi., so strafte ihn dafür der Erste seiner Klasse, indem er ihm in einer Freistunde aufgab, zwanzig Verse aus dem Homer oder Virgil zu übersetzen oder auswendig zu lernen. Hier war Ankläger, Richter und vollziehende Gewalt in einer Person, und gegen ein solches Urtheil gab eS keine Berufung. Daß hier die schreiendsten Ungerechtigkeiten verübt wurden, daß hier persönliche Mißverhältnisse,'die bei einem so engen Zusammenleben nothwendig

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/422
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/422>, abgerufen am 23.07.2024.