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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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Vorwurf, denn eine solche kann eigentlich hier noch gar nicht bestehen.
Freisinnigkeit ist eine Sache, die man nicht auf einmal lernt; sie kann
sich nur nach und nach durch mehrere Generationen heranbilden und
kann zur höchsten Blüthe nur bei einem Volke mit freien Verfassungen
gelangen. Ein geschichtlicher Rückblick zeigt uns, daß die Bedingungen
zu der freisinnigen Volkserziehung nicht vorlagen. Bis zur französi¬
schen Revolution waren die Rheinlande politisch zersplittert. Unter dem
französischen Militairdespotismus war ein Selbstbewußtsein ebensowenig
möglich. Und in den darauf folgenden dreißig Friedensjahren ist erst eine
Generation ausgestorben. Zudem kann ich mich nie von dem Gedanken
losmachen, daß Freisinnigkeit mit lebhaftem Nationalgefühl verbunden
sein müsse und Eins das Andere wechselwirkend erzeuge. Wenigstens
finden wir bei allen freien Völkern ein lebhaftes Nationalgefühl.

Unsere letzte vierteljährige Assisensitzung bot mehrere interessante
Fälle. -- Ein Mord, von einem Wilddiebe an einem Forstbedienten ver¬
übt, wurde verhandelt und der Mörder zum Tode verurtheilt. Aber¬
mals Menschenblut -- doppeltes sogar -- um Hasenblut. Ein wegen
Kindesmord angeklagtes Frauenzimmer ward freigesprochen. Ein leicht¬
sinniger Bankrotteur, der Frau und Kind verlassend mit einer Dirne
entfloh, und diese dann, um sich und sie zu ernähren, in London und
Paris zur Prostitution zwang, ward verurtheilt. Ein Fall bodenloser
Unsittlichkeit. Ein ähnlicher war eine empörende, an einem neunjähri¬
gen Mädchen verübte Nothzucht. Uebrigens kommen derlei Fälle hier
sehr selten vor und gewöhnlich haben die Asstsen nur über Diebstähle
und Verwundungen zu entscheiden. Viel Lärm hat der Fall des Katnmer-
gerichtsassessors Oppenheim gemacht, der wie bekannt der Baronin Meyen-
dorff eine Cassette genommen hatte, angeblich um Einsicht von gewissen
Papieren zu nehmen, die das Vermögen der Gräfin Hatzfeld betrafen.
Es sind dabei Dinge zur Sprache gekommen, die eine traurige Einsicht
in die Sittlichkeit mancher aristokratischen Kreise gewähren. Die Ge¬
schwornen waren über den Fall getheilter Meinung, und da diese Thei¬
lung just sechs gegen sechs Stimmen war, so kam der Angeklagte frei.
Das Publicum ist über den Fall ebenfalls getheilter Meinung. Aller¬
dings lag es wohl auf der Hand, daß Oppenheim, von reicher Fa¬
milie, keinen Gelddiebstahl begehen wollte im gewöhnlichsten Sinne des
Wortes. Allein die Triebfedern des lebhaften Interesses mehrerer junger
Leute (auch ein 1>i. Mendelssohn ist dabei betheiligt und noch flüchtig)
für die Gräfin Hatzfeld lassen so sonderbare Deutungen zu, außerdem
waren die jungen Leute unter falschen Namen gereist, in ihren Koffern


Vorwurf, denn eine solche kann eigentlich hier noch gar nicht bestehen.
Freisinnigkeit ist eine Sache, die man nicht auf einmal lernt; sie kann
sich nur nach und nach durch mehrere Generationen heranbilden und
kann zur höchsten Blüthe nur bei einem Volke mit freien Verfassungen
gelangen. Ein geschichtlicher Rückblick zeigt uns, daß die Bedingungen
zu der freisinnigen Volkserziehung nicht vorlagen. Bis zur französi¬
schen Revolution waren die Rheinlande politisch zersplittert. Unter dem
französischen Militairdespotismus war ein Selbstbewußtsein ebensowenig
möglich. Und in den darauf folgenden dreißig Friedensjahren ist erst eine
Generation ausgestorben. Zudem kann ich mich nie von dem Gedanken
losmachen, daß Freisinnigkeit mit lebhaftem Nationalgefühl verbunden
sein müsse und Eins das Andere wechselwirkend erzeuge. Wenigstens
finden wir bei allen freien Völkern ein lebhaftes Nationalgefühl.

Unsere letzte vierteljährige Assisensitzung bot mehrere interessante
Fälle. — Ein Mord, von einem Wilddiebe an einem Forstbedienten ver¬
übt, wurde verhandelt und der Mörder zum Tode verurtheilt. Aber¬
mals Menschenblut — doppeltes sogar — um Hasenblut. Ein wegen
Kindesmord angeklagtes Frauenzimmer ward freigesprochen. Ein leicht¬
sinniger Bankrotteur, der Frau und Kind verlassend mit einer Dirne
entfloh, und diese dann, um sich und sie zu ernähren, in London und
Paris zur Prostitution zwang, ward verurtheilt. Ein Fall bodenloser
Unsittlichkeit. Ein ähnlicher war eine empörende, an einem neunjähri¬
gen Mädchen verübte Nothzucht. Uebrigens kommen derlei Fälle hier
sehr selten vor und gewöhnlich haben die Asstsen nur über Diebstähle
und Verwundungen zu entscheiden. Viel Lärm hat der Fall des Katnmer-
gerichtsassessors Oppenheim gemacht, der wie bekannt der Baronin Meyen-
dorff eine Cassette genommen hatte, angeblich um Einsicht von gewissen
Papieren zu nehmen, die das Vermögen der Gräfin Hatzfeld betrafen.
Es sind dabei Dinge zur Sprache gekommen, die eine traurige Einsicht
in die Sittlichkeit mancher aristokratischen Kreise gewähren. Die Ge¬
schwornen waren über den Fall getheilter Meinung, und da diese Thei¬
lung just sechs gegen sechs Stimmen war, so kam der Angeklagte frei.
Das Publicum ist über den Fall ebenfalls getheilter Meinung. Aller¬
dings lag es wohl auf der Hand, daß Oppenheim, von reicher Fa¬
milie, keinen Gelddiebstahl begehen wollte im gewöhnlichsten Sinne des
Wortes. Allein die Triebfedern des lebhaften Interesses mehrerer junger
Leute (auch ein 1>i. Mendelssohn ist dabei betheiligt und noch flüchtig)
für die Gräfin Hatzfeld lassen so sonderbare Deutungen zu, außerdem
waren die jungen Leute unter falschen Namen gereist, in ihren Koffern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/395>, abgerufen am 23.07.2024.