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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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Verhältnisse auseinandergesetzt und dabei war ein trüber Ernst von ih¬
rem Gesicht gewichen, jetzt erzwang sie plötzlich ein Lächeln und fuhr fort:

"Nun behauptet dieser Herr hier, daß die Gattin ihre Pflicht er¬
füllt habe und in die Arme des Geliebten eilen dürfe, ich aber kann
mich von der Meinung nicht trennen, daß sie gewissenlos gehandelt
habe. Sie sind Arzt, sind der Gründer einer segensreichen Irrenanstalt
-- entscheiden Sie, der Wettpreis ist kein unbedeutender."

Ich erwiderte hierauf, daß ich als alter Mann mir kein Urtheil
in Herzensangelegenheiten zutrauen dürfe und verwies sie auf ihren
jungen Begleiter, der jene Gefühle besser verstehen könne.

"Es handelt sich weniger um Herzensangelegenheiten," entgegnete
die schöne Fran, "als um die Entscheidung der Frage: Konnte dem
Unglücklichen möglicherweise noch geholfen werden? Und'wenn wir
Sie zum Schiedsrichter erwählten, so geschah es, weil wir von Ihrem
gleisen Haare ein völlig leidenschaftloses Urtheil erwarteten."

Ich antwortete nun, daß ich auf jene Frage noch weniger etwas
Entscheidendes sagen könne, da ich selbst weder den Kranken noch die
Krankheit beobachtet hätte; darin aber habe man sicher gefehlt, daß
man andere Aerzte nicht zugezogen, und dann wäre ich stets der Mei¬
nung gewesen, nnr ein Deutscher könne den wahnsinnigen Deutschen,
nur ein Russe den Wahnsinn des Russen am besten heilen.

"Halten Sie nach alle dem die Gattin nicht für strafbar?" fragte
mich heftig die schöne Frau, indem sie meine Hand ergriff und mir fest
ins Gesicht schaute.

"Allerdings", erwiderte ich nach einigem Bedenken, "sie ist nicht frei
von Schuld."

"Sie hat es selbst gefühlt!" rief die Russin, "sie ist aber auch
reuig und bußfertig. Adieu Thomas Scott! und Dank Ihnen, ehr¬
würdiger Mann!" Mit Anstand verließ sie das Zimmer und verabschiedete
mich kurz im Vorsaale. Als ich wieder ins Zimmer trat, eilte der
genannte junge Mann auf mich zu, faßte meine beiden Arme krampf¬
haft, und blieb so sprachlos vor mir stehen, bis man unten einen
Kutschenschlag zuklappen und einen Wagen davonrollen hörte. Jetzt
ließ er mich los und rief im tiefsten Schmerze:
'

"Nun ist sie fort! Ans ewig! Ihr Wort hat uns unwider¬
ruflich getrennt -- Gottl auf ewig! -- Wie gebrochen schlich er aus
meinem Zimmer und' ich Horte sein lautes Schluchzen, als er durch den
Vorsaal ging. Am andern Morgen aber brachte man mir die Dose


Verhältnisse auseinandergesetzt und dabei war ein trüber Ernst von ih¬
rem Gesicht gewichen, jetzt erzwang sie plötzlich ein Lächeln und fuhr fort:

„Nun behauptet dieser Herr hier, daß die Gattin ihre Pflicht er¬
füllt habe und in die Arme des Geliebten eilen dürfe, ich aber kann
mich von der Meinung nicht trennen, daß sie gewissenlos gehandelt
habe. Sie sind Arzt, sind der Gründer einer segensreichen Irrenanstalt
— entscheiden Sie, der Wettpreis ist kein unbedeutender."

Ich erwiderte hierauf, daß ich als alter Mann mir kein Urtheil
in Herzensangelegenheiten zutrauen dürfe und verwies sie auf ihren
jungen Begleiter, der jene Gefühle besser verstehen könne.

„Es handelt sich weniger um Herzensangelegenheiten," entgegnete
die schöne Fran, „als um die Entscheidung der Frage: Konnte dem
Unglücklichen möglicherweise noch geholfen werden? Und'wenn wir
Sie zum Schiedsrichter erwählten, so geschah es, weil wir von Ihrem
gleisen Haare ein völlig leidenschaftloses Urtheil erwarteten."

Ich antwortete nun, daß ich auf jene Frage noch weniger etwas
Entscheidendes sagen könne, da ich selbst weder den Kranken noch die
Krankheit beobachtet hätte; darin aber habe man sicher gefehlt, daß
man andere Aerzte nicht zugezogen, und dann wäre ich stets der Mei¬
nung gewesen, nnr ein Deutscher könne den wahnsinnigen Deutschen,
nur ein Russe den Wahnsinn des Russen am besten heilen.

„Halten Sie nach alle dem die Gattin nicht für strafbar?" fragte
mich heftig die schöne Frau, indem sie meine Hand ergriff und mir fest
ins Gesicht schaute.

„Allerdings", erwiderte ich nach einigem Bedenken, „sie ist nicht frei
von Schuld."

„Sie hat es selbst gefühlt!" rief die Russin, „sie ist aber auch
reuig und bußfertig. Adieu Thomas Scott! und Dank Ihnen, ehr¬
würdiger Mann!" Mit Anstand verließ sie das Zimmer und verabschiedete
mich kurz im Vorsaale. Als ich wieder ins Zimmer trat, eilte der
genannte junge Mann auf mich zu, faßte meine beiden Arme krampf¬
haft, und blieb so sprachlos vor mir stehen, bis man unten einen
Kutschenschlag zuklappen und einen Wagen davonrollen hörte. Jetzt
ließ er mich los und rief im tiefsten Schmerze:
'

„Nun ist sie fort! Ans ewig! Ihr Wort hat uns unwider¬
ruflich getrennt — Gottl auf ewig! — Wie gebrochen schlich er aus
meinem Zimmer und' ich Horte sein lautes Schluchzen, als er durch den
Vorsaal ging. Am andern Morgen aber brachte man mir die Dose


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[0376] Verhältnisse auseinandergesetzt und dabei war ein trüber Ernst von ih¬ rem Gesicht gewichen, jetzt erzwang sie plötzlich ein Lächeln und fuhr fort: „Nun behauptet dieser Herr hier, daß die Gattin ihre Pflicht er¬ füllt habe und in die Arme des Geliebten eilen dürfe, ich aber kann mich von der Meinung nicht trennen, daß sie gewissenlos gehandelt habe. Sie sind Arzt, sind der Gründer einer segensreichen Irrenanstalt — entscheiden Sie, der Wettpreis ist kein unbedeutender." Ich erwiderte hierauf, daß ich als alter Mann mir kein Urtheil in Herzensangelegenheiten zutrauen dürfe und verwies sie auf ihren jungen Begleiter, der jene Gefühle besser verstehen könne. „Es handelt sich weniger um Herzensangelegenheiten," entgegnete die schöne Fran, „als um die Entscheidung der Frage: Konnte dem Unglücklichen möglicherweise noch geholfen werden? Und'wenn wir Sie zum Schiedsrichter erwählten, so geschah es, weil wir von Ihrem gleisen Haare ein völlig leidenschaftloses Urtheil erwarteten." Ich antwortete nun, daß ich auf jene Frage noch weniger etwas Entscheidendes sagen könne, da ich selbst weder den Kranken noch die Krankheit beobachtet hätte; darin aber habe man sicher gefehlt, daß man andere Aerzte nicht zugezogen, und dann wäre ich stets der Mei¬ nung gewesen, nnr ein Deutscher könne den wahnsinnigen Deutschen, nur ein Russe den Wahnsinn des Russen am besten heilen. „Halten Sie nach alle dem die Gattin nicht für strafbar?" fragte mich heftig die schöne Frau, indem sie meine Hand ergriff und mir fest ins Gesicht schaute. „Allerdings", erwiderte ich nach einigem Bedenken, „sie ist nicht frei von Schuld." „Sie hat es selbst gefühlt!" rief die Russin, „sie ist aber auch reuig und bußfertig. Adieu Thomas Scott! und Dank Ihnen, ehr¬ würdiger Mann!" Mit Anstand verließ sie das Zimmer und verabschiedete mich kurz im Vorsaale. Als ich wieder ins Zimmer trat, eilte der genannte junge Mann auf mich zu, faßte meine beiden Arme krampf¬ haft, und blieb so sprachlos vor mir stehen, bis man unten einen Kutschenschlag zuklappen und einen Wagen davonrollen hörte. Jetzt ließ er mich los und rief im tiefsten Schmerze: ' „Nun ist sie fort! Ans ewig! Ihr Wort hat uns unwider¬ ruflich getrennt — Gottl auf ewig! — Wie gebrochen schlich er aus meinem Zimmer und' ich Horte sein lautes Schluchzen, als er durch den Vorsaal ging. Am andern Morgen aber brachte man mir die Dose

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/376>, abgerufen am 23.07.2024.