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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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wegung, welche letztere heutiges Tages die epische Kunst ergriffen und
zu einer neuen drangvollen Form gebildet hat.

"Des Wildschützen Sohn" in dem "Deutschen Jugendkalender
für 1847", eine mit stoßweis eintretendenBegebenheiten belebte,das Wald¬
leben prächtig schildernde Symphonie, ist ganz und gar Auerbach's ly¬
rische Erzählung, welche noch weiter als die "Frau Professorin" zu¬
rückweicht, fast scheu zurückweicht vor der dramatischen Romanknüpfung,
so wie eine schüchterne Jungfrau dem vollständigen und folgerichtigen
Gespräche ausweicht.

Theoretisch weiß Auerbach ganz genau, was gemeint und von
ihm gefordert wird, denn obwohl mit' einem starken Naturel ausgerü¬
stet, ist er doch nichts weniger als Naturalist. Im Gegentheil, er hat
eine so feine ästhetische Bildung, daß sich die künstlichsten Aesthetiker
bei ihm Rathes erholen könnten. Aber Wissen und Empfinden ist et¬
was anderes als Bewerkstelligen. So tüchtig seine Bücher außerhalb
des Jdylleubereichs sind, so sorgfältig ausgedacht, überlegt und aus¬
geführt sein "Spinoza", sein "Dichter und Kaufmann" ist, so unver-
hältnißmäßig schwach, weil reizlos, sind sie neben den Idyllen. Die
Bildung hat sie geschrieben, nicht das Talent. Sein Talent erwacht
immer erst und setzt sich in Thätigkeit, wenn er den Boden seiner Land¬
leute betritt, wenn er die Verhältnisse deö einfachen, natürlichen Lebens
berührt. Die Sage vom Niesen Antäus, welcher nur volle Kraft hatte,
so lange er wenigstens mit der -Fußspitze die Erde berührte, scheint für
Auerbach erfunden zu sein. Ja das geht so weit, daß ein neues Buch
von ihm "Schrift und Volk, Grundzüge dervolksthümlichen Literatur,,
angeschlossen an eine Charakteristik I. P. Hebels", in diese Bedingun¬
gen der großem oder geringern Macht Auerbach's einzureihen ist, ob¬
wohl es Betrachtungen, Untersuchungen, Theoreme und Systeme und
keineswegs eine Novellen- oder Romanform bietet. Es enthält vortreffliche
Grundzüge, fein gesehene und empfundene Bemerkungen, und in allen
Theilen die gesundeste und tüchtigste Aesthetik. Zu einem einzelnen Belege
will ich nur einen Schluß des ersten Abschnitts wörtlich anführen:

"Es giebt viele politische und socialistische Rigoristen, die die
Forderung stellen und sie auf Beweise zu stützen trachten, daß in dem
großen Processe der Gegenwart auch die Kunst in die Gantmasse
kommen müsse, da heißt es: Ihr sollt und könnt uns keine in sich
ruhende Gestaltungen der Kunst liefern, mitten aus dieser ruhelosen,
chaotischen oder mißgestalteten Zeit. Ihr müßt heraus aus dem Poe-


wegung, welche letztere heutiges Tages die epische Kunst ergriffen und
zu einer neuen drangvollen Form gebildet hat.

„Des Wildschützen Sohn" in dem „Deutschen Jugendkalender
für 1847", eine mit stoßweis eintretendenBegebenheiten belebte,das Wald¬
leben prächtig schildernde Symphonie, ist ganz und gar Auerbach's ly¬
rische Erzählung, welche noch weiter als die „Frau Professorin" zu¬
rückweicht, fast scheu zurückweicht vor der dramatischen Romanknüpfung,
so wie eine schüchterne Jungfrau dem vollständigen und folgerichtigen
Gespräche ausweicht.

Theoretisch weiß Auerbach ganz genau, was gemeint und von
ihm gefordert wird, denn obwohl mit' einem starken Naturel ausgerü¬
stet, ist er doch nichts weniger als Naturalist. Im Gegentheil, er hat
eine so feine ästhetische Bildung, daß sich die künstlichsten Aesthetiker
bei ihm Rathes erholen könnten. Aber Wissen und Empfinden ist et¬
was anderes als Bewerkstelligen. So tüchtig seine Bücher außerhalb
des Jdylleubereichs sind, so sorgfältig ausgedacht, überlegt und aus¬
geführt sein „Spinoza", sein „Dichter und Kaufmann" ist, so unver-
hältnißmäßig schwach, weil reizlos, sind sie neben den Idyllen. Die
Bildung hat sie geschrieben, nicht das Talent. Sein Talent erwacht
immer erst und setzt sich in Thätigkeit, wenn er den Boden seiner Land¬
leute betritt, wenn er die Verhältnisse deö einfachen, natürlichen Lebens
berührt. Die Sage vom Niesen Antäus, welcher nur volle Kraft hatte,
so lange er wenigstens mit der -Fußspitze die Erde berührte, scheint für
Auerbach erfunden zu sein. Ja das geht so weit, daß ein neues Buch
von ihm „Schrift und Volk, Grundzüge dervolksthümlichen Literatur,,
angeschlossen an eine Charakteristik I. P. Hebels", in diese Bedingun¬
gen der großem oder geringern Macht Auerbach's einzureihen ist, ob¬
wohl es Betrachtungen, Untersuchungen, Theoreme und Systeme und
keineswegs eine Novellen- oder Romanform bietet. Es enthält vortreffliche
Grundzüge, fein gesehene und empfundene Bemerkungen, und in allen
Theilen die gesundeste und tüchtigste Aesthetik. Zu einem einzelnen Belege
will ich nur einen Schluß des ersten Abschnitts wörtlich anführen:

„Es giebt viele politische und socialistische Rigoristen, die die
Forderung stellen und sie auf Beweise zu stützen trachten, daß in dem
großen Processe der Gegenwart auch die Kunst in die Gantmasse
kommen müsse, da heißt es: Ihr sollt und könnt uns keine in sich
ruhende Gestaltungen der Kunst liefern, mitten aus dieser ruhelosen,
chaotischen oder mißgestalteten Zeit. Ihr müßt heraus aus dem Poe-


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[0350] wegung, welche letztere heutiges Tages die epische Kunst ergriffen und zu einer neuen drangvollen Form gebildet hat. „Des Wildschützen Sohn" in dem „Deutschen Jugendkalender für 1847", eine mit stoßweis eintretendenBegebenheiten belebte,das Wald¬ leben prächtig schildernde Symphonie, ist ganz und gar Auerbach's ly¬ rische Erzählung, welche noch weiter als die „Frau Professorin" zu¬ rückweicht, fast scheu zurückweicht vor der dramatischen Romanknüpfung, so wie eine schüchterne Jungfrau dem vollständigen und folgerichtigen Gespräche ausweicht. Theoretisch weiß Auerbach ganz genau, was gemeint und von ihm gefordert wird, denn obwohl mit' einem starken Naturel ausgerü¬ stet, ist er doch nichts weniger als Naturalist. Im Gegentheil, er hat eine so feine ästhetische Bildung, daß sich die künstlichsten Aesthetiker bei ihm Rathes erholen könnten. Aber Wissen und Empfinden ist et¬ was anderes als Bewerkstelligen. So tüchtig seine Bücher außerhalb des Jdylleubereichs sind, so sorgfältig ausgedacht, überlegt und aus¬ geführt sein „Spinoza", sein „Dichter und Kaufmann" ist, so unver- hältnißmäßig schwach, weil reizlos, sind sie neben den Idyllen. Die Bildung hat sie geschrieben, nicht das Talent. Sein Talent erwacht immer erst und setzt sich in Thätigkeit, wenn er den Boden seiner Land¬ leute betritt, wenn er die Verhältnisse deö einfachen, natürlichen Lebens berührt. Die Sage vom Niesen Antäus, welcher nur volle Kraft hatte, so lange er wenigstens mit der -Fußspitze die Erde berührte, scheint für Auerbach erfunden zu sein. Ja das geht so weit, daß ein neues Buch von ihm „Schrift und Volk, Grundzüge dervolksthümlichen Literatur,, angeschlossen an eine Charakteristik I. P. Hebels", in diese Bedingun¬ gen der großem oder geringern Macht Auerbach's einzureihen ist, ob¬ wohl es Betrachtungen, Untersuchungen, Theoreme und Systeme und keineswegs eine Novellen- oder Romanform bietet. Es enthält vortreffliche Grundzüge, fein gesehene und empfundene Bemerkungen, und in allen Theilen die gesundeste und tüchtigste Aesthetik. Zu einem einzelnen Belege will ich nur einen Schluß des ersten Abschnitts wörtlich anführen: „Es giebt viele politische und socialistische Rigoristen, die die Forderung stellen und sie auf Beweise zu stützen trachten, daß in dem großen Processe der Gegenwart auch die Kunst in die Gantmasse kommen müsse, da heißt es: Ihr sollt und könnt uns keine in sich ruhende Gestaltungen der Kunst liefern, mitten aus dieser ruhelosen, chaotischen oder mißgestalteten Zeit. Ihr müßt heraus aus dem Poe-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/350>, abgerufen am 23.07.2024.