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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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Juliens eine stille Ahnung unsäglichen Glücks in meinem Herzen.
Sie war mir auch heute noch für das dankbar, was sie ihre Ret¬
tung nannte.

Den Kulmberg hinter uns lassend, näherten wir uns dem Flach¬
lande der Pleißenebene, deren fruchtbaren Weizenboden alle Völker
Europa's mit dein Blute ihrer Krieger gedüngt haben. Es wäre ein
Wunder, wenn nicht wenigstens das Getreide üppig darnach wüchse,
da die Früchte anderer Saale", die über dem Leipziger Schlachtfelde
aufgehen sollten, desto armseliger ausgefallen sind. In Würzen erregte
damals eine unter großen örtlichen Schwierigkeiten aufgeführte Mulden¬
brücke das Erstaunen der Gegenwart in dem Grade, daß sie jeder
Fuchs zu Fuße überschritt, um sie desto ungehinderter zu bewundern.
Fünfzig oder sechzig plan- und hindernißvolle Jahre hatte es gewährt,
bevor der wichtige Wasserbau in'ö Werk gehest ward. Wie rasch aber
ist unser jüngstes Zeitalter gegen die Vergangenheit gehalten! Um
eine Straßenbrücke rang Würzen ein halbes Jahrhundert. Ein Lustrum
später baute ihm die Eisenbahnverwaltung binnen wenigen Monaten
noch eine zweite, viel ansehnlichere Brücke neben der alten über den
Strom. Wurzelt hat die Gelegenheit mit Eifer benutzt, sich selbst zu
entlaufen. Es ist nach Leipzig ausgewandert und hat an der Mulde
nur seine Ruinen zurückgelassen. Die Eisenbahnen steigern das Leben
lebenskräftiger Städte ins Unendliche. Absterbende Körper, denen sie
auf ihrem Wege begegnen, führen sie dem vollen Tod zu. Das ist
ihre Art.

In Borsdorf hatte jeder Fuchs die Verpflichtung, Sandkuchen zu
essen, durch deren Gepäck das Dorf in der Nähe so berühmt war, als
in der Ferne durch seine Aepfel. Ich erließ mir natürlich keine Weihe,
die den Studenten in mir vollenden konnte. Aus Ungeduld, Leipzig
zu erblicken, setzte ich mich dann zu Heinrich in die Schoßkelle.

"Wie weil ist's noch hin?"

"Ganz nahe. Sie sehen, ich kann schon mit der Peitsche darauf
weisen", bemerkte der Kutscher sehr zufrieden mit seinem Witze und
deutete auf einige Thürme, die in den blassen Horizont bläulich hin¬
einragten. Die Namen der zur Rechten und Linken liegenden Orte
wurden immer märchenhaft reizender und erinnerungsvertrauter. Ein
Schauplatz der Leipziger Studentenwelt, in Liedern gepriesen und
Stammbüchern verewigt, nach dem andern streckte sich an beiden Sei¬
ten des Weges aus. Mancher davon sah etwas schäbiger aus, als
meine Vorstellung von ihm. Endlich die "grüne Schenke", in dessen


Juliens eine stille Ahnung unsäglichen Glücks in meinem Herzen.
Sie war mir auch heute noch für das dankbar, was sie ihre Ret¬
tung nannte.

Den Kulmberg hinter uns lassend, näherten wir uns dem Flach¬
lande der Pleißenebene, deren fruchtbaren Weizenboden alle Völker
Europa's mit dein Blute ihrer Krieger gedüngt haben. Es wäre ein
Wunder, wenn nicht wenigstens das Getreide üppig darnach wüchse,
da die Früchte anderer Saale», die über dem Leipziger Schlachtfelde
aufgehen sollten, desto armseliger ausgefallen sind. In Würzen erregte
damals eine unter großen örtlichen Schwierigkeiten aufgeführte Mulden¬
brücke das Erstaunen der Gegenwart in dem Grade, daß sie jeder
Fuchs zu Fuße überschritt, um sie desto ungehinderter zu bewundern.
Fünfzig oder sechzig plan- und hindernißvolle Jahre hatte es gewährt,
bevor der wichtige Wasserbau in'ö Werk gehest ward. Wie rasch aber
ist unser jüngstes Zeitalter gegen die Vergangenheit gehalten! Um
eine Straßenbrücke rang Würzen ein halbes Jahrhundert. Ein Lustrum
später baute ihm die Eisenbahnverwaltung binnen wenigen Monaten
noch eine zweite, viel ansehnlichere Brücke neben der alten über den
Strom. Wurzelt hat die Gelegenheit mit Eifer benutzt, sich selbst zu
entlaufen. Es ist nach Leipzig ausgewandert und hat an der Mulde
nur seine Ruinen zurückgelassen. Die Eisenbahnen steigern das Leben
lebenskräftiger Städte ins Unendliche. Absterbende Körper, denen sie
auf ihrem Wege begegnen, führen sie dem vollen Tod zu. Das ist
ihre Art.

In Borsdorf hatte jeder Fuchs die Verpflichtung, Sandkuchen zu
essen, durch deren Gepäck das Dorf in der Nähe so berühmt war, als
in der Ferne durch seine Aepfel. Ich erließ mir natürlich keine Weihe,
die den Studenten in mir vollenden konnte. Aus Ungeduld, Leipzig
zu erblicken, setzte ich mich dann zu Heinrich in die Schoßkelle.

„Wie weil ist's noch hin?"

„Ganz nahe. Sie sehen, ich kann schon mit der Peitsche darauf
weisen", bemerkte der Kutscher sehr zufrieden mit seinem Witze und
deutete auf einige Thürme, die in den blassen Horizont bläulich hin¬
einragten. Die Namen der zur Rechten und Linken liegenden Orte
wurden immer märchenhaft reizender und erinnerungsvertrauter. Ein
Schauplatz der Leipziger Studentenwelt, in Liedern gepriesen und
Stammbüchern verewigt, nach dem andern streckte sich an beiden Sei¬
ten des Weges aus. Mancher davon sah etwas schäbiger aus, als
meine Vorstellung von ihm. Endlich die „grüne Schenke", in dessen


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[0335] Juliens eine stille Ahnung unsäglichen Glücks in meinem Herzen. Sie war mir auch heute noch für das dankbar, was sie ihre Ret¬ tung nannte. Den Kulmberg hinter uns lassend, näherten wir uns dem Flach¬ lande der Pleißenebene, deren fruchtbaren Weizenboden alle Völker Europa's mit dein Blute ihrer Krieger gedüngt haben. Es wäre ein Wunder, wenn nicht wenigstens das Getreide üppig darnach wüchse, da die Früchte anderer Saale», die über dem Leipziger Schlachtfelde aufgehen sollten, desto armseliger ausgefallen sind. In Würzen erregte damals eine unter großen örtlichen Schwierigkeiten aufgeführte Mulden¬ brücke das Erstaunen der Gegenwart in dem Grade, daß sie jeder Fuchs zu Fuße überschritt, um sie desto ungehinderter zu bewundern. Fünfzig oder sechzig plan- und hindernißvolle Jahre hatte es gewährt, bevor der wichtige Wasserbau in'ö Werk gehest ward. Wie rasch aber ist unser jüngstes Zeitalter gegen die Vergangenheit gehalten! Um eine Straßenbrücke rang Würzen ein halbes Jahrhundert. Ein Lustrum später baute ihm die Eisenbahnverwaltung binnen wenigen Monaten noch eine zweite, viel ansehnlichere Brücke neben der alten über den Strom. Wurzelt hat die Gelegenheit mit Eifer benutzt, sich selbst zu entlaufen. Es ist nach Leipzig ausgewandert und hat an der Mulde nur seine Ruinen zurückgelassen. Die Eisenbahnen steigern das Leben lebenskräftiger Städte ins Unendliche. Absterbende Körper, denen sie auf ihrem Wege begegnen, führen sie dem vollen Tod zu. Das ist ihre Art. In Borsdorf hatte jeder Fuchs die Verpflichtung, Sandkuchen zu essen, durch deren Gepäck das Dorf in der Nähe so berühmt war, als in der Ferne durch seine Aepfel. Ich erließ mir natürlich keine Weihe, die den Studenten in mir vollenden konnte. Aus Ungeduld, Leipzig zu erblicken, setzte ich mich dann zu Heinrich in die Schoßkelle. „Wie weil ist's noch hin?" „Ganz nahe. Sie sehen, ich kann schon mit der Peitsche darauf weisen", bemerkte der Kutscher sehr zufrieden mit seinem Witze und deutete auf einige Thürme, die in den blassen Horizont bläulich hin¬ einragten. Die Namen der zur Rechten und Linken liegenden Orte wurden immer märchenhaft reizender und erinnerungsvertrauter. Ein Schauplatz der Leipziger Studentenwelt, in Liedern gepriesen und Stammbüchern verewigt, nach dem andern streckte sich an beiden Sei¬ ten des Weges aus. Mancher davon sah etwas schäbiger aus, als meine Vorstellung von ihm. Endlich die „grüne Schenke", in dessen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/335>, abgerufen am 23.07.2024.