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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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bei reicherer Individualität, nicht so frei hervorzutreten wagt und sein
Wesen geltend zu machen, wie die romanischen Völker, besonders Fran¬
zosen und Engländer, -- denn bei letztern, die ein Mischlingsvolk sind,
hat das germanische Element nur dazu gedient, dem romanischen mehr
Zähigkeit zu geben. Am kühnsten ist daher der Deutsche auf der Stu-
dirstube, wenn ^ihn keine Außenwelt stört. Hier erntet er die Vor¬
theile seiner Zerrissenheit, weil kein allgemein anerkanntes Gesetz ihn
fesselt und in unwillkürlichen Banden hält. Deshalb ist Deutschland
das Vaterland der kühnsten Denker und wird es, wenn auch in ferner
Zukunft, das der freiesten, weit individuellsten und verschiedensten Men¬
schen sein. Du hast daher ganz recht, Maria, in Italien den Man¬
gel innern Reichthums, in Deutschland den des Selbstvertrauens und
der Selbstständigkeit empfunden, denn sogar der politisch so sehr ge¬
knechtete Italiener steht doch im Leben auf weit fester" Füßen wie der
Deutsche. Dank seinem romanischen Blute." -- "Du hast vergessen",
sagte Fernand, "daß Deutschland nicht allein die größten Denker, son¬
dern noch weit mehr die größten Musiker producirt. Und es ist auch
natürlich, daß die reiche Natur des Germanen, trotz aller Unterdrü¬
ckung, zuerst in der Empfindung sich bekundet. Wenn die sehr sinnlich,
aber auch sehr einseitig ausgedrückte Leidenschaft in der Musik der
neuern Italiener und nach der weichlichen Sentimentalität Weber'S,
Spohr's und dieser Schule als ein wahres Labsal erscheint, so hat doch
Meyerbeer wieder die Suprematie der Deutschen gerettet durch die
Hugenotten', in denen die neuere italienische Musik als Element auf¬
genommen ist, und die Leidenschaft vom bloßen Naturlaute, zur höch¬
sten Kraftäußerung reich gegliederter Organisationen veredelt wird. --
Unser Gespräch ward unterbrochen durch wohlbekannte Melodien, welche
unten in der Kajüte Jemand auf dem Claviere vortrug. Es war die
Hauptmotive aus den "tuo k'ose-iri, eine Oper, die bei gleichem Me¬
lodienreichthum, wie Donizetti, schon die Charaktere mehr zu scheiden
beginnt, als es die bloße Verschiedenheit der Stimmlage thut. Der
alte Foscari ist eine der glänzendsten Baritonpartien, die ich kenne,
und das Herz erbebte einem vor Lust und Schmerz, wenn Coletti in
San Carlo in mächtigen, silberreinen Tönen die Klagen des alten Do¬
gen um den gemordeten Sohn und die ihm vom Haupt gerissene Krone
dahinbrauscn ließ.

Wir gingen herunter in die Kajüte und hörten dem Spiele
Verdi's zu. Auf unsere Bitten trug er noch einiges aus Ernani und
Yen Lombardi vor, die wir sonst nicht zu hören bekommen konnten,


bei reicherer Individualität, nicht so frei hervorzutreten wagt und sein
Wesen geltend zu machen, wie die romanischen Völker, besonders Fran¬
zosen und Engländer, — denn bei letztern, die ein Mischlingsvolk sind,
hat das germanische Element nur dazu gedient, dem romanischen mehr
Zähigkeit zu geben. Am kühnsten ist daher der Deutsche auf der Stu-
dirstube, wenn ^ihn keine Außenwelt stört. Hier erntet er die Vor¬
theile seiner Zerrissenheit, weil kein allgemein anerkanntes Gesetz ihn
fesselt und in unwillkürlichen Banden hält. Deshalb ist Deutschland
das Vaterland der kühnsten Denker und wird es, wenn auch in ferner
Zukunft, das der freiesten, weit individuellsten und verschiedensten Men¬
schen sein. Du hast daher ganz recht, Maria, in Italien den Man¬
gel innern Reichthums, in Deutschland den des Selbstvertrauens und
der Selbstständigkeit empfunden, denn sogar der politisch so sehr ge¬
knechtete Italiener steht doch im Leben auf weit fester» Füßen wie der
Deutsche. Dank seinem romanischen Blute." — „Du hast vergessen",
sagte Fernand, „daß Deutschland nicht allein die größten Denker, son¬
dern noch weit mehr die größten Musiker producirt. Und es ist auch
natürlich, daß die reiche Natur des Germanen, trotz aller Unterdrü¬
ckung, zuerst in der Empfindung sich bekundet. Wenn die sehr sinnlich,
aber auch sehr einseitig ausgedrückte Leidenschaft in der Musik der
neuern Italiener und nach der weichlichen Sentimentalität Weber'S,
Spohr's und dieser Schule als ein wahres Labsal erscheint, so hat doch
Meyerbeer wieder die Suprematie der Deutschen gerettet durch die
Hugenotten', in denen die neuere italienische Musik als Element auf¬
genommen ist, und die Leidenschaft vom bloßen Naturlaute, zur höch¬
sten Kraftäußerung reich gegliederter Organisationen veredelt wird. —
Unser Gespräch ward unterbrochen durch wohlbekannte Melodien, welche
unten in der Kajüte Jemand auf dem Claviere vortrug. Es war die
Hauptmotive aus den «tuo k'ose-iri, eine Oper, die bei gleichem Me¬
lodienreichthum, wie Donizetti, schon die Charaktere mehr zu scheiden
beginnt, als es die bloße Verschiedenheit der Stimmlage thut. Der
alte Foscari ist eine der glänzendsten Baritonpartien, die ich kenne,
und das Herz erbebte einem vor Lust und Schmerz, wenn Coletti in
San Carlo in mächtigen, silberreinen Tönen die Klagen des alten Do¬
gen um den gemordeten Sohn und die ihm vom Haupt gerissene Krone
dahinbrauscn ließ.

Wir gingen herunter in die Kajüte und hörten dem Spiele
Verdi's zu. Auf unsere Bitten trug er noch einiges aus Ernani und
Yen Lombardi vor, die wir sonst nicht zu hören bekommen konnten,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/30>, abgerufen am 26.08.2024.