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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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Julius. Nun bin ich begierig, was der uns sagen wird. In
der Kirche möchte ich sterben vor langer Weile.
'

Otto. Hör'mal! Sags aber nicht weiter, denn ich darf nichts
ausplaudern. Neulich erzählte mein Vater der Mutter über Tische,
der Minister wolle noch viel mehr Religion in der Schule haben.

Julius. Rum das käme mir gelegen.

Man glaubt kaum, ans welche wunderlichen Einfälle Schüler sich
verirren und welch' eine widerkirchliche Gesinnung unter ihnen grade
da herrscht, wo der Religionsunterricht nach dem Katechismus mit dem
lebhaftesten Eifer für kirchliches Leben von den Lehrern ertheilt und
betrieben wird. Es fehlt unserer Jugend sammt und sonders, der
pietistischen nicht minder als der rationalistischen, die Pietät, d. h. die
fromme, gläubige Hingebung an ein höheres Ansehen, welche vor
hundert Jahren noch alle Verhältnisse des Lebens durchdrang, jetzt
aber aus ihnen lange gänzlich und, wie es scheint, unwiederbringlich
entwichen ist. Die Verbindung der Kirche mit der Schule ist gegen¬
wärtig eine pädagogisch-widernatürliche, unglückselige und wird von
Jahre zu Jahre der Kirche selbst immer verderblicher. Daher sollte
man sie bei guter Zeit noch völlig auflösen. Allein die Geistlichen,
von einem seltsamen Wahne befangen, halten streng auf sie und suchen
ihre Macht, der sie wie einem trügerischen Scheinbilde nachjagen, über
die Schulen zu erweitern, ohne von dem erfolglosen Streben befriedigt
werden zu können. Nordamerikanische Zustände darf man ihnen als
klaren Nachweis ihres Irrthums und ihrer Befangenheit kaum zu
nennen wagen, denn sie werden von der europäischen Geistlichkeit durch¬
weg tief verabscheut. Sie will eben die Gemüther beherrschen, aber
nicht von der Gemeinde abhängen, die religiösen und kirchlichen Be¬
dürfnisse derselben in ihrem eignen Sinne, nicht im Sinne der Gemeinde-
Glieder zu befriedigen. Viele Geistliche scheinen, dem Verfahren nach
Zu urtheilen, wirklich zu meinen, ein beliebiger Ausspruch werde da¬
durch wahr, daß er den Leuten voll Kindesbeinen an eingeprägt, aus¬
wendig gelernt und brav wiederholt wird. Ja, wenn die Leute keine
Schriften weiter lesen wollten, als die von den Geistlichen gebilligt
werden! Die Schulen sind jedoch wenig geeignet, ein solches Verfahren
"ut großem Glücke und Erfolge anzuwenden. Die Jugend kommt oft
weht deswegen weniger gottesfürchtig, als man wünscht, aus den
Schulen zurück, weil in ihnen die Religionskenntnisse nicht genug, nicht
w alter Weise eifrig genug getrieben werden, sondern eben deshalb,


Julius. Nun bin ich begierig, was der uns sagen wird. In
der Kirche möchte ich sterben vor langer Weile.
'

Otto. Hör'mal! Sags aber nicht weiter, denn ich darf nichts
ausplaudern. Neulich erzählte mein Vater der Mutter über Tische,
der Minister wolle noch viel mehr Religion in der Schule haben.

Julius. Rum das käme mir gelegen.

Man glaubt kaum, ans welche wunderlichen Einfälle Schüler sich
verirren und welch' eine widerkirchliche Gesinnung unter ihnen grade
da herrscht, wo der Religionsunterricht nach dem Katechismus mit dem
lebhaftesten Eifer für kirchliches Leben von den Lehrern ertheilt und
betrieben wird. Es fehlt unserer Jugend sammt und sonders, der
pietistischen nicht minder als der rationalistischen, die Pietät, d. h. die
fromme, gläubige Hingebung an ein höheres Ansehen, welche vor
hundert Jahren noch alle Verhältnisse des Lebens durchdrang, jetzt
aber aus ihnen lange gänzlich und, wie es scheint, unwiederbringlich
entwichen ist. Die Verbindung der Kirche mit der Schule ist gegen¬
wärtig eine pädagogisch-widernatürliche, unglückselige und wird von
Jahre zu Jahre der Kirche selbst immer verderblicher. Daher sollte
man sie bei guter Zeit noch völlig auflösen. Allein die Geistlichen,
von einem seltsamen Wahne befangen, halten streng auf sie und suchen
ihre Macht, der sie wie einem trügerischen Scheinbilde nachjagen, über
die Schulen zu erweitern, ohne von dem erfolglosen Streben befriedigt
werden zu können. Nordamerikanische Zustände darf man ihnen als
klaren Nachweis ihres Irrthums und ihrer Befangenheit kaum zu
nennen wagen, denn sie werden von der europäischen Geistlichkeit durch¬
weg tief verabscheut. Sie will eben die Gemüther beherrschen, aber
nicht von der Gemeinde abhängen, die religiösen und kirchlichen Be¬
dürfnisse derselben in ihrem eignen Sinne, nicht im Sinne der Gemeinde-
Glieder zu befriedigen. Viele Geistliche scheinen, dem Verfahren nach
Zu urtheilen, wirklich zu meinen, ein beliebiger Ausspruch werde da¬
durch wahr, daß er den Leuten voll Kindesbeinen an eingeprägt, aus¬
wendig gelernt und brav wiederholt wird. Ja, wenn die Leute keine
Schriften weiter lesen wollten, als die von den Geistlichen gebilligt
werden! Die Schulen sind jedoch wenig geeignet, ein solches Verfahren
"ut großem Glücke und Erfolge anzuwenden. Die Jugend kommt oft
weht deswegen weniger gottesfürchtig, als man wünscht, aus den
Schulen zurück, weil in ihnen die Religionskenntnisse nicht genug, nicht
w alter Weise eifrig genug getrieben werden, sondern eben deshalb,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/279>, abgerufen am 23.07.2024.