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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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besondere Aufgabe der Erziehung, Daß beide Aufgaben als ein un¬
trennbares Ganzes in dem öffentlichen Schulwesen noch nicht zusam¬
mengefaßt worden, darf man nicht den Schulen, wohl aber eher den
Staatsbehörden, welche für eine zweckmäßigere Einrichtung jener zu
sorgen haben, zur Last legen.

Für den niedern und den höhern Unterricht der Jugend wird durch
öffentliche Anstalten, welche wir Schulen zu nennen pflegen, in Frank¬
reich nochdürftig, in Deutschland unbestreitbar besser gesorgt. Um die
Erziehung der Jugend ist es dagegen in beiden Ländern ziemlich gleich
schlecht bestellt, Sie liegt fast ganz außerhalb der eigentlichen Absicht
des öffentlichen Schulwesens. Ihr hilft der allgemeine Charakter des
Volks und der Zustände desselben nach oder schadet ihr. Wie die
höchst wesentlichen äußern Einflüsse auf die Erziehung des Einzelnen
überall durchaus zufällige sind, so ist auch das endliche Ergebniß ein
eben so zufälliges, dem gewöhnlich alle verständige Berechnung von
vorn herein mangelt. Ob Einer in die gefahrvolle und verabscheu-
ungswürdige Laufbahn des Verbrechers gegen die Staatsgesetze ge¬
worfen wird oder nicht, hängt in der That mehr vom Unglücke oder
Glücke, das ihn trifft, als von der Erziehung ab, die ihm im höhern
Sinne meist gar nicht zu Theil geworden ist.

Denn das älterliche Halts sorgt in den mittlen Schichten der
staatlichen Gesellschaft durchschnittlich wenig oder dürftig, in den ober"
und den untern beinahe gar nicht für die naturgemäße Entwickelung
des sittlichen und des rechtlichen Bewußtseins der Jugend. Dort hin¬
dern vielfache Berufsgeschäfte die Aeltern, die Erziehung der Kinder
nach einem wohldurchdachten Plane oder aus Mangel an Kenntnissen
in der Erziehungskunst wenigstens mit gehöriger Einsicht zu leiten;
hier das Uebermaß an sinnlichen Zerstreuungen und Genüssen oder die
quälendste Noth und namenloses Elend. Ja in der überwiegenden
Zahl der hierher gehörenden Fälle muß man den unmittelbaren Ein¬
fluß der Aeltern ans die Kinder als einen verderblichen betrachten.
Nur in den mittlen Schichten der Gesellschaft ist er unter besonderer
Gunst der äußern Lage theilweise ein wohlthätiger, bisweilen ein so
vortrefflicher, als man ihn nur denken mag; in den obern vernichtet
er gewöhnlich schon früh das sittliche, in den untern das rechtliche
und meist auch das sittliche Bewußtsein allein durch das tägliche Bei¬
spiel und die stetige Anschauung dessen, was eben verwerflich ist, von
der Wurzel aus. Ja, schützten nicht der Besitz und die Landesgesetze
die Glieder der obern, so würde man wahrscheinlich aus ihnen weit


besondere Aufgabe der Erziehung, Daß beide Aufgaben als ein un¬
trennbares Ganzes in dem öffentlichen Schulwesen noch nicht zusam¬
mengefaßt worden, darf man nicht den Schulen, wohl aber eher den
Staatsbehörden, welche für eine zweckmäßigere Einrichtung jener zu
sorgen haben, zur Last legen.

Für den niedern und den höhern Unterricht der Jugend wird durch
öffentliche Anstalten, welche wir Schulen zu nennen pflegen, in Frank¬
reich nochdürftig, in Deutschland unbestreitbar besser gesorgt. Um die
Erziehung der Jugend ist es dagegen in beiden Ländern ziemlich gleich
schlecht bestellt, Sie liegt fast ganz außerhalb der eigentlichen Absicht
des öffentlichen Schulwesens. Ihr hilft der allgemeine Charakter des
Volks und der Zustände desselben nach oder schadet ihr. Wie die
höchst wesentlichen äußern Einflüsse auf die Erziehung des Einzelnen
überall durchaus zufällige sind, so ist auch das endliche Ergebniß ein
eben so zufälliges, dem gewöhnlich alle verständige Berechnung von
vorn herein mangelt. Ob Einer in die gefahrvolle und verabscheu-
ungswürdige Laufbahn des Verbrechers gegen die Staatsgesetze ge¬
worfen wird oder nicht, hängt in der That mehr vom Unglücke oder
Glücke, das ihn trifft, als von der Erziehung ab, die ihm im höhern
Sinne meist gar nicht zu Theil geworden ist.

Denn das älterliche Halts sorgt in den mittlen Schichten der
staatlichen Gesellschaft durchschnittlich wenig oder dürftig, in den ober»
und den untern beinahe gar nicht für die naturgemäße Entwickelung
des sittlichen und des rechtlichen Bewußtseins der Jugend. Dort hin¬
dern vielfache Berufsgeschäfte die Aeltern, die Erziehung der Kinder
nach einem wohldurchdachten Plane oder aus Mangel an Kenntnissen
in der Erziehungskunst wenigstens mit gehöriger Einsicht zu leiten;
hier das Uebermaß an sinnlichen Zerstreuungen und Genüssen oder die
quälendste Noth und namenloses Elend. Ja in der überwiegenden
Zahl der hierher gehörenden Fälle muß man den unmittelbaren Ein¬
fluß der Aeltern ans die Kinder als einen verderblichen betrachten.
Nur in den mittlen Schichten der Gesellschaft ist er unter besonderer
Gunst der äußern Lage theilweise ein wohlthätiger, bisweilen ein so
vortrefflicher, als man ihn nur denken mag; in den obern vernichtet
er gewöhnlich schon früh das sittliche, in den untern das rechtliche
und meist auch das sittliche Bewußtsein allein durch das tägliche Bei¬
spiel und die stetige Anschauung dessen, was eben verwerflich ist, von
der Wurzel aus. Ja, schützten nicht der Besitz und die Landesgesetze
die Glieder der obern, so würde man wahrscheinlich aus ihnen weit


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[0274] besondere Aufgabe der Erziehung, Daß beide Aufgaben als ein un¬ trennbares Ganzes in dem öffentlichen Schulwesen noch nicht zusam¬ mengefaßt worden, darf man nicht den Schulen, wohl aber eher den Staatsbehörden, welche für eine zweckmäßigere Einrichtung jener zu sorgen haben, zur Last legen. Für den niedern und den höhern Unterricht der Jugend wird durch öffentliche Anstalten, welche wir Schulen zu nennen pflegen, in Frank¬ reich nochdürftig, in Deutschland unbestreitbar besser gesorgt. Um die Erziehung der Jugend ist es dagegen in beiden Ländern ziemlich gleich schlecht bestellt, Sie liegt fast ganz außerhalb der eigentlichen Absicht des öffentlichen Schulwesens. Ihr hilft der allgemeine Charakter des Volks und der Zustände desselben nach oder schadet ihr. Wie die höchst wesentlichen äußern Einflüsse auf die Erziehung des Einzelnen überall durchaus zufällige sind, so ist auch das endliche Ergebniß ein eben so zufälliges, dem gewöhnlich alle verständige Berechnung von vorn herein mangelt. Ob Einer in die gefahrvolle und verabscheu- ungswürdige Laufbahn des Verbrechers gegen die Staatsgesetze ge¬ worfen wird oder nicht, hängt in der That mehr vom Unglücke oder Glücke, das ihn trifft, als von der Erziehung ab, die ihm im höhern Sinne meist gar nicht zu Theil geworden ist. Denn das älterliche Halts sorgt in den mittlen Schichten der staatlichen Gesellschaft durchschnittlich wenig oder dürftig, in den ober» und den untern beinahe gar nicht für die naturgemäße Entwickelung des sittlichen und des rechtlichen Bewußtseins der Jugend. Dort hin¬ dern vielfache Berufsgeschäfte die Aeltern, die Erziehung der Kinder nach einem wohldurchdachten Plane oder aus Mangel an Kenntnissen in der Erziehungskunst wenigstens mit gehöriger Einsicht zu leiten; hier das Uebermaß an sinnlichen Zerstreuungen und Genüssen oder die quälendste Noth und namenloses Elend. Ja in der überwiegenden Zahl der hierher gehörenden Fälle muß man den unmittelbaren Ein¬ fluß der Aeltern ans die Kinder als einen verderblichen betrachten. Nur in den mittlen Schichten der Gesellschaft ist er unter besonderer Gunst der äußern Lage theilweise ein wohlthätiger, bisweilen ein so vortrefflicher, als man ihn nur denken mag; in den obern vernichtet er gewöhnlich schon früh das sittliche, in den untern das rechtliche und meist auch das sittliche Bewußtsein allein durch das tägliche Bei¬ spiel und die stetige Anschauung dessen, was eben verwerflich ist, von der Wurzel aus. Ja, schützten nicht der Besitz und die Landesgesetze die Glieder der obern, so würde man wahrscheinlich aus ihnen weit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/274>, abgerufen am 23.07.2024.