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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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entsendete Infanterie-Abtheilung fast gleichzeitig ähnliches Schicksal er¬
litten hatte.

Einige blinde Allarmirungen abgerechnet verging der 21. in Krakau
ruhigz es geschahen zahlreiche Arretirungen, so daß die Stadtbehörden
eine, neben der Hauptwache gelegene Kapelle zur Unterbringung der
Gefangenen öffnen mußten. Nachmittags wurde Standrecht gegen Jene
verkündet, welche man im bewaffneten Widerstande ergreifen würde;
auch war eine allgemeine Waffenablieferung und die nächtliche Be¬
leuchtung aller Fenster angeordnet. Zur Ausübung des Standrechts
ergab sich keine Gelegenheit, die Waffenabliefcrung geschah nur spar¬
sam. Die Nacht wurde unter den Waffen zugebracht. Der greise
General hielt zu Pferde nnter seinen Truppen und theilte alle Ent¬
behrungen mit ihnen; sein Beispiel potenzirte die Kräfte, und nur da¬
durch war es möglich, die allgemeine Ermattung zu bekämpfen. Seit
sechs Tagen hatten die Truppen, bei dem Mangel an geordneter Ver¬
pflegung auch die Nachtruhe gänzlich entbehrt; gegen Morgen wurde
die Erschöpfung so groß, daß ganze Glieder wankten lind einzelne
Reiter von den Pferden sanken.

Am 22. um 8 Uhr früh verließen die Truppen die Gesechtsauf-
stellung und durften auf dem gefrornen Boden ruhen. Vormittags
zeigte der russische Resident das nahebevorstehende Einrücken russischer
Verstärkungen an; sie trafen nicht ein, und über ihr Geschick herrschte
Dunkel. Nachmittags verbreiteten sich Gerüchte von Volksaufständen
im Krakauer und russischen Gebiete; Patrouillen stießen eine Viertel¬
meile außer der Stadt auf bewaffnete Jnfurgententrupps; auch in den
Vorstädten herrschte unverkennbare Bewegung. Um 4 Uhr Nachmit¬
tags erfuhr man die Flucht des Senats und der Residenten. General
von Colin stand ohne Jnstructionen in der von ihren Behörden ver¬
lassenen Stadt; mit ItlW Mann erschöpften Truppen, ohne Proviant
und Munitionsvorräthe, in genauer Kenntniß von der Entfernung je¬
des möglichen Succurses und in gerechter Besorgnis) bezüglich des Zu¬
standes im eigenen Lande, blieb nichts -- gar nichts als der Rückzug,
der in voller Ordnung ungestört angetreten wurde. Die nach Krakau
gebrachten Offiziersbagagen und ein unbespannter Munitionskarren
blieben zurück. In Podgorze angelangt, wurde die Schiffbrücke über
die Weichsel allsgehängt; dann entsendete der General von Colin In¬
fanterie-Abtheilungen zur Beobachtung des zum Theil noch mit einer
gangbaren Eisdecke belegenen Flusses, an welche sich freiwillige Ab¬
theilungen berittener Grenzjäger anschlössen. Kurz nach dem Abrücken


entsendete Infanterie-Abtheilung fast gleichzeitig ähnliches Schicksal er¬
litten hatte.

Einige blinde Allarmirungen abgerechnet verging der 21. in Krakau
ruhigz es geschahen zahlreiche Arretirungen, so daß die Stadtbehörden
eine, neben der Hauptwache gelegene Kapelle zur Unterbringung der
Gefangenen öffnen mußten. Nachmittags wurde Standrecht gegen Jene
verkündet, welche man im bewaffneten Widerstande ergreifen würde;
auch war eine allgemeine Waffenablieferung und die nächtliche Be¬
leuchtung aller Fenster angeordnet. Zur Ausübung des Standrechts
ergab sich keine Gelegenheit, die Waffenabliefcrung geschah nur spar¬
sam. Die Nacht wurde unter den Waffen zugebracht. Der greise
General hielt zu Pferde nnter seinen Truppen und theilte alle Ent¬
behrungen mit ihnen; sein Beispiel potenzirte die Kräfte, und nur da¬
durch war es möglich, die allgemeine Ermattung zu bekämpfen. Seit
sechs Tagen hatten die Truppen, bei dem Mangel an geordneter Ver¬
pflegung auch die Nachtruhe gänzlich entbehrt; gegen Morgen wurde
die Erschöpfung so groß, daß ganze Glieder wankten lind einzelne
Reiter von den Pferden sanken.

Am 22. um 8 Uhr früh verließen die Truppen die Gesechtsauf-
stellung und durften auf dem gefrornen Boden ruhen. Vormittags
zeigte der russische Resident das nahebevorstehende Einrücken russischer
Verstärkungen an; sie trafen nicht ein, und über ihr Geschick herrschte
Dunkel. Nachmittags verbreiteten sich Gerüchte von Volksaufständen
im Krakauer und russischen Gebiete; Patrouillen stießen eine Viertel¬
meile außer der Stadt auf bewaffnete Jnfurgententrupps; auch in den
Vorstädten herrschte unverkennbare Bewegung. Um 4 Uhr Nachmit¬
tags erfuhr man die Flucht des Senats und der Residenten. General
von Colin stand ohne Jnstructionen in der von ihren Behörden ver¬
lassenen Stadt; mit ItlW Mann erschöpften Truppen, ohne Proviant
und Munitionsvorräthe, in genauer Kenntniß von der Entfernung je¬
des möglichen Succurses und in gerechter Besorgnis) bezüglich des Zu¬
standes im eigenen Lande, blieb nichts — gar nichts als der Rückzug,
der in voller Ordnung ungestört angetreten wurde. Die nach Krakau
gebrachten Offiziersbagagen und ein unbespannter Munitionskarren
blieben zurück. In Podgorze angelangt, wurde die Schiffbrücke über
die Weichsel allsgehängt; dann entsendete der General von Colin In¬
fanterie-Abtheilungen zur Beobachtung des zum Theil noch mit einer
gangbaren Eisdecke belegenen Flusses, an welche sich freiwillige Ab¬
theilungen berittener Grenzjäger anschlössen. Kurz nach dem Abrücken


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[0016] entsendete Infanterie-Abtheilung fast gleichzeitig ähnliches Schicksal er¬ litten hatte. Einige blinde Allarmirungen abgerechnet verging der 21. in Krakau ruhigz es geschahen zahlreiche Arretirungen, so daß die Stadtbehörden eine, neben der Hauptwache gelegene Kapelle zur Unterbringung der Gefangenen öffnen mußten. Nachmittags wurde Standrecht gegen Jene verkündet, welche man im bewaffneten Widerstande ergreifen würde; auch war eine allgemeine Waffenablieferung und die nächtliche Be¬ leuchtung aller Fenster angeordnet. Zur Ausübung des Standrechts ergab sich keine Gelegenheit, die Waffenabliefcrung geschah nur spar¬ sam. Die Nacht wurde unter den Waffen zugebracht. Der greise General hielt zu Pferde nnter seinen Truppen und theilte alle Ent¬ behrungen mit ihnen; sein Beispiel potenzirte die Kräfte, und nur da¬ durch war es möglich, die allgemeine Ermattung zu bekämpfen. Seit sechs Tagen hatten die Truppen, bei dem Mangel an geordneter Ver¬ pflegung auch die Nachtruhe gänzlich entbehrt; gegen Morgen wurde die Erschöpfung so groß, daß ganze Glieder wankten lind einzelne Reiter von den Pferden sanken. Am 22. um 8 Uhr früh verließen die Truppen die Gesechtsauf- stellung und durften auf dem gefrornen Boden ruhen. Vormittags zeigte der russische Resident das nahebevorstehende Einrücken russischer Verstärkungen an; sie trafen nicht ein, und über ihr Geschick herrschte Dunkel. Nachmittags verbreiteten sich Gerüchte von Volksaufständen im Krakauer und russischen Gebiete; Patrouillen stießen eine Viertel¬ meile außer der Stadt auf bewaffnete Jnfurgententrupps; auch in den Vorstädten herrschte unverkennbare Bewegung. Um 4 Uhr Nachmit¬ tags erfuhr man die Flucht des Senats und der Residenten. General von Colin stand ohne Jnstructionen in der von ihren Behörden ver¬ lassenen Stadt; mit ItlW Mann erschöpften Truppen, ohne Proviant und Munitionsvorräthe, in genauer Kenntniß von der Entfernung je¬ des möglichen Succurses und in gerechter Besorgnis) bezüglich des Zu¬ standes im eigenen Lande, blieb nichts — gar nichts als der Rückzug, der in voller Ordnung ungestört angetreten wurde. Die nach Krakau gebrachten Offiziersbagagen und ein unbespannter Munitionskarren blieben zurück. In Podgorze angelangt, wurde die Schiffbrücke über die Weichsel allsgehängt; dann entsendete der General von Colin In¬ fanterie-Abtheilungen zur Beobachtung des zum Theil noch mit einer gangbaren Eisdecke belegenen Flusses, an welche sich freiwillige Ab¬ theilungen berittener Grenzjäger anschlössen. Kurz nach dem Abrücken

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/16>, abgerufen am 26.08.2024.