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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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ser romantischen Erzählungswcise. Auf Geheimnissen herumzutanzen
ehe man weiß, ob diese Geheimnisse der Rede werth sind, das ist ein
Verlangen, über welches nur eine große Genialität der Darstellung
hinwegbringt. Ich finde dann auch diesen Romanband da am besten,
wo der Verfasser in der Mitte deS Bandes ein hinreichendes Stück
Boden vor uns aufgedeckt hat und nun gezwungen ist, mit benann¬
ten Größen in natürlicher Entwickelung zu verfahren. Schücking wird
seine schönen Kräfte viel ergiebiger verwerthen, wenn er sich entschließt,
seine Erzählungen beim Anfange anzufangen. Die dunkle That spielt
übrigens in Westphalen und im vorigen Jahrhunderte. Sie besteht
in der Beseitigung mehrerer Kinder durch ein rachsüchtiges Frauen¬
zimmer und ist längst geschehen, als die Helden und Heldinnen des
Romans einander begegnen. Sie ist also nur ein Hintergrund, wel¬
cher uns als solcher nicht besonders lockt und welcher eigentlich nur
zur Erklärung dient, nicht aber zu dramatischer Bewegung.

Von den drei Damen, welche uns Romane bringen, erlaube ich'mir nur über eine, die Gräfin Hahn, ein Urtheil. Die andern beiden,
Louise Mühlbach und Caroline von Göhren, begegen sich in For¬
men der Darstellung, welche meiner Empfänglichkeit zu weit abliegen.
Von Louise Mühlbach, die sehr fleißig producirt, habe ich sehr lange
nichts gelesen und ich muß gestehen, daß dieser "Roman in Berlin"
einen großen Fortschritt der Verfasserin neben frühern Büchern bekun¬
det. Das Thema selbst, Berliner Zustände und Figuren, die sich nach
allen Seiten durchkreuzen und vor zwei Jahren Berliner Geheimnisse
betitelt worden wären, ist mit Sicherheit angefaßt und in guter mo¬
ralischer Absicht so ausführlich angelegt, daß es eine breite BeHand¬
lungsweise verträgt. Dies wird gewiß von einem-großen Theil des
Publicums dankbar anerkannt werden. Für mich ist diese Breite der
Zustände und Charaktere nur dann genießbar, wenn ihr die geistige
Energie eines Sue auch große Stärke verleiht. Ohne solche Energie
der Fassung werde ich das Mißbehagen nicht los, eine romantische
Statistik vor mir zu haben, die mir nicht hinreichend Statistik ist, weil
sie eben romantisch sein will, und nicht Roman genug, weil sie auf
Statistik Ansprüche macht. -- Noch übler ist mein Verhältniß zu der
"Adoptivtochter" von Caroline von Göhren. Dieser Roman ist die
Ausführung des dritten Abends aus Andersen's "Bilderbuch ohne Bilder."
Es ist ein gar mißlich Ding, etwas in zwei Bände auszudehnen, was
schon eine kurze gute Form gefunden hat. Die Verfasserin hat denn
auch offenbar ein ganz anderes Publicum vor Augen, als uns Schrift-


ser romantischen Erzählungswcise. Auf Geheimnissen herumzutanzen
ehe man weiß, ob diese Geheimnisse der Rede werth sind, das ist ein
Verlangen, über welches nur eine große Genialität der Darstellung
hinwegbringt. Ich finde dann auch diesen Romanband da am besten,
wo der Verfasser in der Mitte deS Bandes ein hinreichendes Stück
Boden vor uns aufgedeckt hat und nun gezwungen ist, mit benann¬
ten Größen in natürlicher Entwickelung zu verfahren. Schücking wird
seine schönen Kräfte viel ergiebiger verwerthen, wenn er sich entschließt,
seine Erzählungen beim Anfange anzufangen. Die dunkle That spielt
übrigens in Westphalen und im vorigen Jahrhunderte. Sie besteht
in der Beseitigung mehrerer Kinder durch ein rachsüchtiges Frauen¬
zimmer und ist längst geschehen, als die Helden und Heldinnen des
Romans einander begegnen. Sie ist also nur ein Hintergrund, wel¬
cher uns als solcher nicht besonders lockt und welcher eigentlich nur
zur Erklärung dient, nicht aber zu dramatischer Bewegung.

Von den drei Damen, welche uns Romane bringen, erlaube ich'mir nur über eine, die Gräfin Hahn, ein Urtheil. Die andern beiden,
Louise Mühlbach und Caroline von Göhren, begegen sich in For¬
men der Darstellung, welche meiner Empfänglichkeit zu weit abliegen.
Von Louise Mühlbach, die sehr fleißig producirt, habe ich sehr lange
nichts gelesen und ich muß gestehen, daß dieser „Roman in Berlin"
einen großen Fortschritt der Verfasserin neben frühern Büchern bekun¬
det. Das Thema selbst, Berliner Zustände und Figuren, die sich nach
allen Seiten durchkreuzen und vor zwei Jahren Berliner Geheimnisse
betitelt worden wären, ist mit Sicherheit angefaßt und in guter mo¬
ralischer Absicht so ausführlich angelegt, daß es eine breite BeHand¬
lungsweise verträgt. Dies wird gewiß von einem-großen Theil des
Publicums dankbar anerkannt werden. Für mich ist diese Breite der
Zustände und Charaktere nur dann genießbar, wenn ihr die geistige
Energie eines Sue auch große Stärke verleiht. Ohne solche Energie
der Fassung werde ich das Mißbehagen nicht los, eine romantische
Statistik vor mir zu haben, die mir nicht hinreichend Statistik ist, weil
sie eben romantisch sein will, und nicht Roman genug, weil sie auf
Statistik Ansprüche macht. — Noch übler ist mein Verhältniß zu der
„Adoptivtochter" von Caroline von Göhren. Dieser Roman ist die
Ausführung des dritten Abends aus Andersen's „Bilderbuch ohne Bilder."
Es ist ein gar mißlich Ding, etwas in zwei Bände auszudehnen, was
schon eine kurze gute Form gefunden hat. Die Verfasserin hat denn
auch offenbar ein ganz anderes Publicum vor Augen, als uns Schrift-


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[0155] ser romantischen Erzählungswcise. Auf Geheimnissen herumzutanzen ehe man weiß, ob diese Geheimnisse der Rede werth sind, das ist ein Verlangen, über welches nur eine große Genialität der Darstellung hinwegbringt. Ich finde dann auch diesen Romanband da am besten, wo der Verfasser in der Mitte deS Bandes ein hinreichendes Stück Boden vor uns aufgedeckt hat und nun gezwungen ist, mit benann¬ ten Größen in natürlicher Entwickelung zu verfahren. Schücking wird seine schönen Kräfte viel ergiebiger verwerthen, wenn er sich entschließt, seine Erzählungen beim Anfange anzufangen. Die dunkle That spielt übrigens in Westphalen und im vorigen Jahrhunderte. Sie besteht in der Beseitigung mehrerer Kinder durch ein rachsüchtiges Frauen¬ zimmer und ist längst geschehen, als die Helden und Heldinnen des Romans einander begegnen. Sie ist also nur ein Hintergrund, wel¬ cher uns als solcher nicht besonders lockt und welcher eigentlich nur zur Erklärung dient, nicht aber zu dramatischer Bewegung. Von den drei Damen, welche uns Romane bringen, erlaube ich'mir nur über eine, die Gräfin Hahn, ein Urtheil. Die andern beiden, Louise Mühlbach und Caroline von Göhren, begegen sich in For¬ men der Darstellung, welche meiner Empfänglichkeit zu weit abliegen. Von Louise Mühlbach, die sehr fleißig producirt, habe ich sehr lange nichts gelesen und ich muß gestehen, daß dieser „Roman in Berlin" einen großen Fortschritt der Verfasserin neben frühern Büchern bekun¬ det. Das Thema selbst, Berliner Zustände und Figuren, die sich nach allen Seiten durchkreuzen und vor zwei Jahren Berliner Geheimnisse betitelt worden wären, ist mit Sicherheit angefaßt und in guter mo¬ ralischer Absicht so ausführlich angelegt, daß es eine breite BeHand¬ lungsweise verträgt. Dies wird gewiß von einem-großen Theil des Publicums dankbar anerkannt werden. Für mich ist diese Breite der Zustände und Charaktere nur dann genießbar, wenn ihr die geistige Energie eines Sue auch große Stärke verleiht. Ohne solche Energie der Fassung werde ich das Mißbehagen nicht los, eine romantische Statistik vor mir zu haben, die mir nicht hinreichend Statistik ist, weil sie eben romantisch sein will, und nicht Roman genug, weil sie auf Statistik Ansprüche macht. — Noch übler ist mein Verhältniß zu der „Adoptivtochter" von Caroline von Göhren. Dieser Roman ist die Ausführung des dritten Abends aus Andersen's „Bilderbuch ohne Bilder." Es ist ein gar mißlich Ding, etwas in zwei Bände auszudehnen, was schon eine kurze gute Form gefunden hat. Die Verfasserin hat denn auch offenbar ein ganz anderes Publicum vor Augen, als uns Schrift-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/155>, abgerufen am 26.08.2024.