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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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terthümlicher Naivetät ward mit Füßen getreten; ja die Philiströsität
des bon sei," desavouirte sogar den Werther und desavouirt noch im¬
mer die ganze moderne Literatur von Lord Byron an, hatte aber da¬
für auch das Glück, schon von Lessing, ihrem anfänglichen Partner,
sich abgewiesen zu sehen. Der Rationalismus schmähte die Romantik
und möchte noch heutzutage jede Spur von Poesie aus unserm Leben
verbannen. Hegel trat auf --die Rationalisten lachten oder verketzer¬
ten ; die Julirevolution erschütterte Europa -- die Rationalisten sperr¬
ten sich vorsichtig gegen ihre Einflüsse ab, glaubten in den Chorfüh¬
rern der Fleischesrehabilitation und des jungen Deutschlands den leib¬
haftigen Satan zu erblicken.

Der ächte Rationalismus hat, wie die Restauration, nichts vergessen
und nichts gelernt. Noch immer nehmen sich die rationalistischen Kan¬
zelredner den Cicero zum Vorbilde; noch immer erheben sie, wenn sie
in die Philosophie pfuschen, diesen "schludrigen" Philister, der sich bei
allen Systemen sein Schäfchen zu scheeren wußte, auf den Schild.
Noch immer möchten die Rationalisten alle Tiefen der Natur und des
Menschenherzens mit ihrem Schwalle impertinent breiter Tautologien
ausfüllen und alle Welt zu Amphibien machen. Denn zur Gattung
der Amphibien (hört es, ihr Naturforscher!) -- zur Gattung der Am¬
phibien gehört der ächte Rationalist. Oder ist dieses vorsichtige Schwan¬
ken und Herumwählen zwischen Vernunft und Glauben nicht ächt
amphibienartig? Ein Rationalist "kann auf dem Lande und im Was¬
ser leben", freilich mit entschiedener Vorliebe für das Wasser. Wir
wollen mit dieser Schilderung keineswegs diejenigen ehrenhaften Män¬
ner verletzen, welche zur Zeit unter dem Namen "Nationalisten" für
den religiösen Fortschritt fechten; sie haben Konsequenzen gezogen, zu
denen sich der ächte Rationalismus, wie er besonders hier und da auf
Kathedern sein Wesen treibt, nie verstanden haben würde. Allein auch
ächte, alte Rationalisten laufen jetzt' mit dem großen Haufen und ste¬
cken in ihrem Nummer Sicher die Lorbeern des Freisinns in die Tasche;
auf diese isj es hier abgesehen! Von dieser Sorte haben wir auch in
Gießen einige Exemplare. Dennoch wollen wir nicht zu streng mit ihnen
verfahren, da auch sie in neuester Zeit vom Strome der Zeitbewegun¬
gen mit fortgerissen, wenigstens eine negative Bedeutung gegenüber ei¬
ner prätentiösen Romantik gewinnen. Unsere Zeit zerstört; überlassen
wir das Aufbauen einer glücklichern Epoche!

Ganz Hessen-Darmstadt bezieht von Gießen her seinen fast offi-
ciellen Rationalismus ; nun ist aber einmal alles Offieielle widerlich,


Grenzbot"". IV.

terthümlicher Naivetät ward mit Füßen getreten; ja die Philiströsität
des bon sei,« desavouirte sogar den Werther und desavouirt noch im¬
mer die ganze moderne Literatur von Lord Byron an, hatte aber da¬
für auch das Glück, schon von Lessing, ihrem anfänglichen Partner,
sich abgewiesen zu sehen. Der Rationalismus schmähte die Romantik
und möchte noch heutzutage jede Spur von Poesie aus unserm Leben
verbannen. Hegel trat auf —die Rationalisten lachten oder verketzer¬
ten ; die Julirevolution erschütterte Europa — die Rationalisten sperr¬
ten sich vorsichtig gegen ihre Einflüsse ab, glaubten in den Chorfüh¬
rern der Fleischesrehabilitation und des jungen Deutschlands den leib¬
haftigen Satan zu erblicken.

Der ächte Rationalismus hat, wie die Restauration, nichts vergessen
und nichts gelernt. Noch immer nehmen sich die rationalistischen Kan¬
zelredner den Cicero zum Vorbilde; noch immer erheben sie, wenn sie
in die Philosophie pfuschen, diesen „schludrigen" Philister, der sich bei
allen Systemen sein Schäfchen zu scheeren wußte, auf den Schild.
Noch immer möchten die Rationalisten alle Tiefen der Natur und des
Menschenherzens mit ihrem Schwalle impertinent breiter Tautologien
ausfüllen und alle Welt zu Amphibien machen. Denn zur Gattung
der Amphibien (hört es, ihr Naturforscher!) — zur Gattung der Am¬
phibien gehört der ächte Rationalist. Oder ist dieses vorsichtige Schwan¬
ken und Herumwählen zwischen Vernunft und Glauben nicht ächt
amphibienartig? Ein Rationalist „kann auf dem Lande und im Was¬
ser leben", freilich mit entschiedener Vorliebe für das Wasser. Wir
wollen mit dieser Schilderung keineswegs diejenigen ehrenhaften Män¬
ner verletzen, welche zur Zeit unter dem Namen „Nationalisten" für
den religiösen Fortschritt fechten; sie haben Konsequenzen gezogen, zu
denen sich der ächte Rationalismus, wie er besonders hier und da auf
Kathedern sein Wesen treibt, nie verstanden haben würde. Allein auch
ächte, alte Rationalisten laufen jetzt' mit dem großen Haufen und ste¬
cken in ihrem Nummer Sicher die Lorbeern des Freisinns in die Tasche;
auf diese isj es hier abgesehen! Von dieser Sorte haben wir auch in
Gießen einige Exemplare. Dennoch wollen wir nicht zu streng mit ihnen
verfahren, da auch sie in neuester Zeit vom Strome der Zeitbewegun¬
gen mit fortgerissen, wenigstens eine negative Bedeutung gegenüber ei¬
ner prätentiösen Romantik gewinnen. Unsere Zeit zerstört; überlassen
wir das Aufbauen einer glücklichern Epoche!

Ganz Hessen-Darmstadt bezieht von Gießen her seinen fast offi-
ciellen Rationalismus ; nun ist aber einmal alles Offieielle widerlich,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/141>, abgerufen am 03.07.2024.