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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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blosen das Tischgebet sprechen mußte. Ja, damals harmonirte es
ganz trefflich mit dem Zeitgeiste, die Studenten so viel als möglich
auf sich selbst zu beschränken. Aber dem modernen Studiosus, für den
Schule und Leben keine Gegensätze mehr sein sollten, muß der Wellen¬
schlag eines bewegten, großstädtischen Lebens um die Ohren rauschen.
Beamtenphilisterthum, Engherzigkeit, FanüliSmus im schlechtesten Sinne,
blindes Brotstudium, kurz die ganze Misere unseres deutschen Lebens wird
nirgends besser gedeihen, als in solchen kleinen Universitätsstädten. In
einem Krähwinkel, wo der Student die Hauptrolle spielt, wo er mit
seinen Boreaden und Bändchen ein Gegenstand der Bewunderung für
alle schöne Augen ist, wird er nie von seinem erclusiv corporativen
Wahnsinn curirt werden und sich als Glied einer großen Nation em¬
pfinden lernen.


2. Die Stadt. Hillebrand- Carnöre :c.

Gießen ist ein Nixlnm compositum aller möglichen Städtephysio¬
gnomien. Man könnte es im Sinne Plato's (beileibe nicht im politischen!)
eine demokratische Stadt nennen. Rustikos ist sein Ansetzn nicht, diesem Prä-
dicate widerspricht sein Fabrikanten- und Kcuifmannsgeist, obgleich die
Stadt viel Ackerbau treibt, welcher vor noch nicht so langer Zeit die
Gassen mit Dorfidyllenduft erfüllte. Die Stadt ist zugleich raffinirt und
grobknochigt; an ihren beiden Extremitäten leidlich gebaut, inwendig trüb
und schmuzig. Die Bürger ("Philister" zu sagen schmeckt zu sehr nach
dem Landsmannschafter) sprechen einen fatal platten Jargon, welcher
ein schickliches Daguerreotyp für die niedrigsten Stände, wie für die
Kante-volev abgibt. Man kann auf den ersten Blick den feinfühligen,
feingebtldeten Darmstädter, welcher, wie Börne sagt, "eine Woche vor¬
her von der Oper des kommenden Sonntags spricht," von dem schwer¬
fällig sich gerirenden Gießener unterscheiden.

Gießen ist wohlhabend und sucht sich sowohl im Luxus, als in
Aufführung neuer Gebäude großem Städten zu nähern. Und dennoch
hat es nicht eine Restauration, nicht ein anständiges Caso. Derb,
realistisch-prüde ist sein ganzes Ansehn. Flüchten wir uns daher aus
dieser materialistischen Derbheit in den Bereich des Geistes. Wir wol¬
len ein Mal bet den Herren Docenten anklopfen und beginnen gebüh¬
rendermaßen bei den "Philosophen." Htllebrand, zur Zeit rühm¬
lichst bekannt durch seine "Geschichte der deutschen Nationalliteratur
von Lesstng bis auf die Gegenwart," ist jetzt einer der genanntesten
hiesigen Lehrer. Wenngleich die frühere Uncultur der Universität diesen


blosen das Tischgebet sprechen mußte. Ja, damals harmonirte es
ganz trefflich mit dem Zeitgeiste, die Studenten so viel als möglich
auf sich selbst zu beschränken. Aber dem modernen Studiosus, für den
Schule und Leben keine Gegensätze mehr sein sollten, muß der Wellen¬
schlag eines bewegten, großstädtischen Lebens um die Ohren rauschen.
Beamtenphilisterthum, Engherzigkeit, FanüliSmus im schlechtesten Sinne,
blindes Brotstudium, kurz die ganze Misere unseres deutschen Lebens wird
nirgends besser gedeihen, als in solchen kleinen Universitätsstädten. In
einem Krähwinkel, wo der Student die Hauptrolle spielt, wo er mit
seinen Boreaden und Bändchen ein Gegenstand der Bewunderung für
alle schöne Augen ist, wird er nie von seinem erclusiv corporativen
Wahnsinn curirt werden und sich als Glied einer großen Nation em¬
pfinden lernen.


2. Die Stadt. Hillebrand- Carnöre :c.

Gießen ist ein Nixlnm compositum aller möglichen Städtephysio¬
gnomien. Man könnte es im Sinne Plato's (beileibe nicht im politischen!)
eine demokratische Stadt nennen. Rustikos ist sein Ansetzn nicht, diesem Prä-
dicate widerspricht sein Fabrikanten- und Kcuifmannsgeist, obgleich die
Stadt viel Ackerbau treibt, welcher vor noch nicht so langer Zeit die
Gassen mit Dorfidyllenduft erfüllte. Die Stadt ist zugleich raffinirt und
grobknochigt; an ihren beiden Extremitäten leidlich gebaut, inwendig trüb
und schmuzig. Die Bürger („Philister" zu sagen schmeckt zu sehr nach
dem Landsmannschafter) sprechen einen fatal platten Jargon, welcher
ein schickliches Daguerreotyp für die niedrigsten Stände, wie für die
Kante-volev abgibt. Man kann auf den ersten Blick den feinfühligen,
feingebtldeten Darmstädter, welcher, wie Börne sagt, „eine Woche vor¬
her von der Oper des kommenden Sonntags spricht," von dem schwer¬
fällig sich gerirenden Gießener unterscheiden.

Gießen ist wohlhabend und sucht sich sowohl im Luxus, als in
Aufführung neuer Gebäude großem Städten zu nähern. Und dennoch
hat es nicht eine Restauration, nicht ein anständiges Caso. Derb,
realistisch-prüde ist sein ganzes Ansehn. Flüchten wir uns daher aus
dieser materialistischen Derbheit in den Bereich des Geistes. Wir wol¬
len ein Mal bet den Herren Docenten anklopfen und beginnen gebüh¬
rendermaßen bei den „Philosophen." Htllebrand, zur Zeit rühm¬
lichst bekannt durch seine „Geschichte der deutschen Nationalliteratur
von Lesstng bis auf die Gegenwart," ist jetzt einer der genanntesten
hiesigen Lehrer. Wenngleich die frühere Uncultur der Universität diesen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/137>, abgerufen am 04.07.2024.