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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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drei große Kategorien, welche ihre Weltanschauung normirten: Corps¬
studenten, Kameele und Philister, und diese drei waren im tiefsten
Grunde Eins. Nirgends Sinn für allgemeinere Interessen; der Uni-
versitätSindifferentismus, den Rüge in seinen Halleschcn Jahrbüchern
so sehr rügte, walzte sich hier in breitester Behaglichkeit im Kothe. In
allen burschikosen Kreisen herrschte eine wahrhaft chinesische Abgeschlos¬
senheit; die Carricatur des aristokratischen, in sein Bischen Fachwissen¬
schaft sich gründlichst einpferchenden Professorentreibens. Zu diesem
Uebel gesellte sich, als das Studentenleben auf dem Punkte stand, ei¬
nen frischeren Aufschwung zu nehmen, als schon hier und da der Ge¬
nius der Zukunft in einzelnen Köpfen spukte und man laut nach libe¬
raler Wissenschaftlichkeit und Abschaffung der prüden Corpsknechtschaft
rief, ein neuer Hemmschuh des Fortschritts -- unser famoser sen¬
tier plan. Wir sind nicht gesonnen, diesen Streit, in welchem so
viel Schlechtes und Gutes, pro und comet-u vorgebracht worden ist,
von Neuem aufzurühren. Herr v. Linde, welcher als Kanzler die
protestantischen Ludoviciana noch immer mit ultramontaner Autorität
überschattet, hat mittlerweile andere Fehden sich auf den Hals gela¬
den; und zudem ist uns die wahrscheinlich durch ihn vermittelte (?)
Absetzung des Gymnasiallehrers Noack, der ebenfalls in diesem Streite
die Feder gerührt, noch in zu gutem Andenken. (Wir verweisen übri¬
gens Diejenigen unserer verehrten Leser, welche sich detaillirt über die
Studtenplanangelegenheit zu belehren wünschen, auf die bezügliche
Broschüre des Prof. Dr. A. Fritzsche. Man kann in diesem Schrift¬
chen viel Erbauliches lesen (der Herr Verfasser ist protestantischer
Theolog), wenn man anders eine gute, gesunde Geduld und starke
Nerven hat. Mag Fritzsche auf eregetifchem Gebiet Tholuck's Gegner
sein, auf politischem ist er jedenfalls dessen Geistesverwandter.)

Welche Zwecke auch der Aufstellung dieses Studienplanes zu
Grunde lagen -- ich kann mich nicht überreden, daß sie sehr tiefer
Natur waren. Ein wenig Patriarchalismus (Gießen hat mich von
Weitem das Ansehen einer orientalischen Stadt), versetzt mit dem
Streben nach Uniformität, mag wohl zu Grunde siegen haben. --
Leute, welche später gleiche Kragen, dieselbe Frisur und Einen Kanzlei-
styl haben, müssen schon auf Gymnasium und Universität die Aus¬
wüchse ihrer Originalität über den bureaukratischen Kamm eines sol¬
chen Reglements scheeren lassen. In Gießen legt man einen Haupt-
accent auf die praktischen, errieten Disciplinen; die Forstwissenschaft,
welche nach rationalen Principien die Waldungen lichtet, erfreut sich


drei große Kategorien, welche ihre Weltanschauung normirten: Corps¬
studenten, Kameele und Philister, und diese drei waren im tiefsten
Grunde Eins. Nirgends Sinn für allgemeinere Interessen; der Uni-
versitätSindifferentismus, den Rüge in seinen Halleschcn Jahrbüchern
so sehr rügte, walzte sich hier in breitester Behaglichkeit im Kothe. In
allen burschikosen Kreisen herrschte eine wahrhaft chinesische Abgeschlos¬
senheit; die Carricatur des aristokratischen, in sein Bischen Fachwissen¬
schaft sich gründlichst einpferchenden Professorentreibens. Zu diesem
Uebel gesellte sich, als das Studentenleben auf dem Punkte stand, ei¬
nen frischeren Aufschwung zu nehmen, als schon hier und da der Ge¬
nius der Zukunft in einzelnen Köpfen spukte und man laut nach libe¬
raler Wissenschaftlichkeit und Abschaffung der prüden Corpsknechtschaft
rief, ein neuer Hemmschuh des Fortschritts — unser famoser sen¬
tier plan. Wir sind nicht gesonnen, diesen Streit, in welchem so
viel Schlechtes und Gutes, pro und comet-u vorgebracht worden ist,
von Neuem aufzurühren. Herr v. Linde, welcher als Kanzler die
protestantischen Ludoviciana noch immer mit ultramontaner Autorität
überschattet, hat mittlerweile andere Fehden sich auf den Hals gela¬
den; und zudem ist uns die wahrscheinlich durch ihn vermittelte (?)
Absetzung des Gymnasiallehrers Noack, der ebenfalls in diesem Streite
die Feder gerührt, noch in zu gutem Andenken. (Wir verweisen übri¬
gens Diejenigen unserer verehrten Leser, welche sich detaillirt über die
Studtenplanangelegenheit zu belehren wünschen, auf die bezügliche
Broschüre des Prof. Dr. A. Fritzsche. Man kann in diesem Schrift¬
chen viel Erbauliches lesen (der Herr Verfasser ist protestantischer
Theolog), wenn man anders eine gute, gesunde Geduld und starke
Nerven hat. Mag Fritzsche auf eregetifchem Gebiet Tholuck's Gegner
sein, auf politischem ist er jedenfalls dessen Geistesverwandter.)

Welche Zwecke auch der Aufstellung dieses Studienplanes zu
Grunde lagen — ich kann mich nicht überreden, daß sie sehr tiefer
Natur waren. Ein wenig Patriarchalismus (Gießen hat mich von
Weitem das Ansehen einer orientalischen Stadt), versetzt mit dem
Streben nach Uniformität, mag wohl zu Grunde siegen haben. —
Leute, welche später gleiche Kragen, dieselbe Frisur und Einen Kanzlei-
styl haben, müssen schon auf Gymnasium und Universität die Aus¬
wüchse ihrer Originalität über den bureaukratischen Kamm eines sol¬
chen Reglements scheeren lassen. In Gießen legt man einen Haupt-
accent auf die praktischen, errieten Disciplinen; die Forstwissenschaft,
welche nach rationalen Principien die Waldungen lichtet, erfreut sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/134>, abgerufen am 26.08.2024.