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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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war wie ein Glied von zwanzig Familien. Nur manchmal hatte
er schlimme Tage, an denen es nicht gerathen war ihm nahe zu
kommen; da war er schweigsam und mürrisch, und jeder Anreder
wurde durch einen fürchterlichen Wuthausbruch zurückgewiesen. An
solchen Tagen hielt man die Kinder zurück, daß sie nicht mit ihm
umgingen, man stellte ihm das Essen hinaus in's Freie und wich
ihm auf zwanzig Schritte aus. Nur ein Tagelöhner hatte einmal
die Unvorsichtigkeit, sich in diesem Zustande über ihn lustig zu ma¬
chen; wie ein zorniger Tiger stürzte Richter über ihn her und
würgte ihn so fürchterlich, daß es zehn bis zwölf herbeigestürzten
Bauern nur mit Mühe gelang, ihn von seinem Opfer loszureißen.
-- Zu solchen Zeiten konnte man übrigens das Schauspiel haben,
daß vor fünf oder sechs Häusern zugleich beladene Schüsseln drau¬
ßen standen, die alle für den tollen Dichter bereit waren. Aber
oft ging er vor allen vorüber, ohne sie nur zu berühren.

Mit einem Male war Herr Richter aus unserem Dorfe ver¬
schwunden und man Körte lange nichts von ihm. Man hatte sich
so an ihn gewöhnt, daß er uns auf allen Seiten fehlte. Erst
nach vielen Wochen erzählte ein Handelsmann, der vom Pilsner
Markte zurückkam, er habe Herrn Richter auf der Pilsner Brücke
stehen gesehen, wie er eben ganz traurig an dies Geländer gelehnt
in das Wasser der Mich niederblickte. Er war noch ganz so
phantastisch aufgeputzt wie in unserem Dorfe. Der Handelsmann
hatte sich ihm genaht und ihn freundlich angesprochen; aber Herr
Richter mochte eben seinen bösen Tag gehabt haben, denn er wies
ihn erzürnt zurück.

Seit damals hörte man nie wieder von dem uns lieb geworde¬
nen tollen Dichter, und alle Nachforschungen nach ihm waren ver¬
gebens; aber sein Andenken hat sich in unserem stillen Dorfe, wo
nicht ein Ereigniß das andere verdrängt, bis auf den heutigen
Tag erhalten, und man nennt jetzt Jeden, der Verse macht, einen
tollen Dichter. Vielleicht findet sich Jemand, der zur Lösung dieses
Räthsels, das noch manches dunkle Geheimniß zu umschließen
scheint, etwas beitragen kann.


G.

war wie ein Glied von zwanzig Familien. Nur manchmal hatte
er schlimme Tage, an denen es nicht gerathen war ihm nahe zu
kommen; da war er schweigsam und mürrisch, und jeder Anreder
wurde durch einen fürchterlichen Wuthausbruch zurückgewiesen. An
solchen Tagen hielt man die Kinder zurück, daß sie nicht mit ihm
umgingen, man stellte ihm das Essen hinaus in's Freie und wich
ihm auf zwanzig Schritte aus. Nur ein Tagelöhner hatte einmal
die Unvorsichtigkeit, sich in diesem Zustande über ihn lustig zu ma¬
chen; wie ein zorniger Tiger stürzte Richter über ihn her und
würgte ihn so fürchterlich, daß es zehn bis zwölf herbeigestürzten
Bauern nur mit Mühe gelang, ihn von seinem Opfer loszureißen.
— Zu solchen Zeiten konnte man übrigens das Schauspiel haben,
daß vor fünf oder sechs Häusern zugleich beladene Schüsseln drau¬
ßen standen, die alle für den tollen Dichter bereit waren. Aber
oft ging er vor allen vorüber, ohne sie nur zu berühren.

Mit einem Male war Herr Richter aus unserem Dorfe ver¬
schwunden und man Körte lange nichts von ihm. Man hatte sich
so an ihn gewöhnt, daß er uns auf allen Seiten fehlte. Erst
nach vielen Wochen erzählte ein Handelsmann, der vom Pilsner
Markte zurückkam, er habe Herrn Richter auf der Pilsner Brücke
stehen gesehen, wie er eben ganz traurig an dies Geländer gelehnt
in das Wasser der Mich niederblickte. Er war noch ganz so
phantastisch aufgeputzt wie in unserem Dorfe. Der Handelsmann
hatte sich ihm genaht und ihn freundlich angesprochen; aber Herr
Richter mochte eben seinen bösen Tag gehabt haben, denn er wies
ihn erzürnt zurück.

Seit damals hörte man nie wieder von dem uns lieb geworde¬
nen tollen Dichter, und alle Nachforschungen nach ihm waren ver¬
gebens; aber sein Andenken hat sich in unserem stillen Dorfe, wo
nicht ein Ereigniß das andere verdrängt, bis auf den heutigen
Tag erhalten, und man nennt jetzt Jeden, der Verse macht, einen
tollen Dichter. Vielleicht findet sich Jemand, der zur Lösung dieses
Räthsels, das noch manches dunkle Geheimniß zu umschließen
scheint, etwas beitragen kann.


G.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/76>, abgerufen am 24.11.2024.