Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.bei denen er Hungers sterben kann, so der Franzose nach Renten. bei denen er Hungers sterben kann, so der Franzose nach Renten. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0062" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/182485"/> <p xml:id="ID_161" prev="#ID_160" next="#ID_162"> bei denen er Hungers sterben kann, so der Franzose nach Renten.<lb/> Der kluge Pariser weiß, daß Geld Freiheit bedeutet, daß es Genuß<lb/> ohne Arbeit, Lohn ohne Mühe ist, daß der Besitz von keiner Gunst<lb/> oder Ungunst mehr abhangig ist. Und die tausend Lebensgenusse,<lb/> welche lockend, verführend, täglich in Paris unsere Augen ver¬<lb/> wirren, diese Genüsse, von einigen Auserwählten in verschwende¬<lb/> rischer Hast gierig verschlungen, reizen, sie betäuben so viele Andere,<lb/> die in der weitläufigen Hauptstadt mit doppelten Mühen<lb/> tausendfacher Concurrenz, der Befriedigung gemeiner Bedürfnisse<lb/> nachjagen müssen. Und das auf einem Boden, wo zuerst für die<lb/> Gleichheit aller Menschen das heiligste Blut in Strömen geflossen,<lb/> in einer Stadt, wo jeder Pflasterstein durch erhebende Reminiscen¬<lb/> zen zu individueller Freiheit auffordert! — Da ist das Geld frei¬<lb/> lich nur Mittel, und das unterscheidet die gierige Habsucht vom<lb/> schmuzigen Geiz. Es wäre leicht, ein glänzendes Kapitel zu schrei¬<lb/> ben: Ueber Frankreichs Verfall! — Man mochte anfangen, wie<lb/> Jugurtha zu Rom gesagt hat: „O käufliche Stadt, die verloren<lb/> wäre, wenn sich ein Käufer fände!" — Dann könnte man alle<lb/> die Muster von Käuflichkeit der Weiber und Staatsbeamten auf¬<lb/> zählen, daß Thiers-Börsenspiel ihn durchaus nicht „unmöglich"<lb/> gemacht hat, daß die vornehmsten, wie die geringsten Weiber für<lb/> ihre Hingebung entsprechende Opfer verlangen, so daß uneigen¬<lb/> nützige Liebe in Paris zu den hausväterlichen Provinzial-Traditio-<lb/> nen gehört, und fast sogar von den Bühnen verschwindet, um Ehe¬<lb/> bruchs- oder Ehe-VcrsöhnungS-Scenen Platz zu machen. Ja wohl<lb/> verfällt Frankreich, dieses Frankreich, aber auf seinen'Trümmern<lb/> ersteht ein neues Frankreich, dessen Keime unter den Ruinen gar<lb/> deutlich sprießen, dessen Zähne schon durchbrechen! — Dauerhafte<lb/> Institutionen bewähren nicht immer die Lebenskraft eines Volks,<lb/> im Gegentheile England zum Beispiel, das Volk des Staates<lb/> das politischste Volk wird an seinen Institutionen<lb/> untergehen; es bestimmt sich nur noch, ob es daran verfaulen oder<lb/> ersticken soll? — Allein die beschleunigte Krisis in Frankreich spricht<lb/> gerade für die gute Constitution dieses Volkes. An seine Uebel,<lb/> die wir Alle noch durchmachen werden, knüpft sich der Fortschritt<lb/> an. Das Aktienwesen entwickelt den Associationötrieb und den<lb/> socialistischen Gemeingeist. In die Lücken des Volkslebens, wo sich</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0062]
bei denen er Hungers sterben kann, so der Franzose nach Renten.
Der kluge Pariser weiß, daß Geld Freiheit bedeutet, daß es Genuß
ohne Arbeit, Lohn ohne Mühe ist, daß der Besitz von keiner Gunst
oder Ungunst mehr abhangig ist. Und die tausend Lebensgenusse,
welche lockend, verführend, täglich in Paris unsere Augen ver¬
wirren, diese Genüsse, von einigen Auserwählten in verschwende¬
rischer Hast gierig verschlungen, reizen, sie betäuben so viele Andere,
die in der weitläufigen Hauptstadt mit doppelten Mühen
tausendfacher Concurrenz, der Befriedigung gemeiner Bedürfnisse
nachjagen müssen. Und das auf einem Boden, wo zuerst für die
Gleichheit aller Menschen das heiligste Blut in Strömen geflossen,
in einer Stadt, wo jeder Pflasterstein durch erhebende Reminiscen¬
zen zu individueller Freiheit auffordert! — Da ist das Geld frei¬
lich nur Mittel, und das unterscheidet die gierige Habsucht vom
schmuzigen Geiz. Es wäre leicht, ein glänzendes Kapitel zu schrei¬
ben: Ueber Frankreichs Verfall! — Man mochte anfangen, wie
Jugurtha zu Rom gesagt hat: „O käufliche Stadt, die verloren
wäre, wenn sich ein Käufer fände!" — Dann könnte man alle
die Muster von Käuflichkeit der Weiber und Staatsbeamten auf¬
zählen, daß Thiers-Börsenspiel ihn durchaus nicht „unmöglich"
gemacht hat, daß die vornehmsten, wie die geringsten Weiber für
ihre Hingebung entsprechende Opfer verlangen, so daß uneigen¬
nützige Liebe in Paris zu den hausväterlichen Provinzial-Traditio-
nen gehört, und fast sogar von den Bühnen verschwindet, um Ehe¬
bruchs- oder Ehe-VcrsöhnungS-Scenen Platz zu machen. Ja wohl
verfällt Frankreich, dieses Frankreich, aber auf seinen'Trümmern
ersteht ein neues Frankreich, dessen Keime unter den Ruinen gar
deutlich sprießen, dessen Zähne schon durchbrechen! — Dauerhafte
Institutionen bewähren nicht immer die Lebenskraft eines Volks,
im Gegentheile England zum Beispiel, das Volk des Staates
das politischste Volk wird an seinen Institutionen
untergehen; es bestimmt sich nur noch, ob es daran verfaulen oder
ersticken soll? — Allein die beschleunigte Krisis in Frankreich spricht
gerade für die gute Constitution dieses Volkes. An seine Uebel,
die wir Alle noch durchmachen werden, knüpft sich der Fortschritt
an. Das Aktienwesen entwickelt den Associationötrieb und den
socialistischen Gemeingeist. In die Lücken des Volkslebens, wo sich
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