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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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Alles Unglück, alle Halbheit unserer Bühnenzerrissenheit liegt in dem
falschen Bestreben, in jeder Gattung und Species, in Oper und Ballet,
in Trauerspiel und Lustspiel Alles und das Höchste, das Brillanteste
leisten zu wollen. Hierdurch wird dem alten, wahren Spruch: non multi"
slZ"l unitum schnurstracks entgegen gehandelt und in keinem Zweige et¬
was Harmonisches, in sich Vollendetes geleistet. Diese Bühnenzerrissen¬
heit hat den theatralischen Weltschmerz erweckt, hat die allgemeine Sehn¬
sucht hervorgerufen.

Was das Schauspiel insbesondere betrifft, so ist dabei eine anschei-
dende Kleinigkeit, die aber sehr wichtig ist, nicht zu übersehen. Man
hat in der letztern Zeit den Schriftstellern hier und da mit Recht vorge¬
worfen, daß sie immer nur große Stücke schreiben wollten, daß sie es
unter ihrer Würde hielten, kleinere Stücke, ein- und zweiactige Lustspiele,
zu schreiben, daß es im Grunde verdienstlicher sei, kleine Stücke gut, als
große schlecht zu schreiben. Ohne mich hier auf die Collision mit den
Ueberfttzungsfabrikanten weiter einzulassen, will ich nur bemerken, daß die
Schuld hier eigentlich weniger an den sich überschätzenden Schriftstellern,
als an der abergläubischen Gewohnheit und dem Schlendrian, an den
maß- und tonangebenden Directoren liegt, die ihr Institut immer noch als
eine Zeittödtungsmaschine, als eine Quarantäne gegen die Langeweile be¬
trachten. Sie fordern nämlich (mit wenigen Ausnahmen) von Stücken,
welche sie im Manuscripc zur Aufführung annehmen sollten, daß sie ei¬
nen ganzen Abend füllen sollen; kleinere, einactige deutsche Stücke wer¬
den in der Regel nicht berücksichtigt. Eine Thorheit, welche dies mo¬
derne französische Repertoire auf jeder Seite, mit jedem kleinen Lustspiel
in der ganzen Traurigkeit darstellt. Und wozu zwingt dies den deutschen
Schriftsteller? Er dehnt seinen Stoss, der ein gutes, kleines Stück ge¬
geben hatte, über die Stoffgrenzen zu fünf Acten aus, um das Publi-
cum zu langweilen und nachher von der Kritik vernünftiger Weise hören
zu müssen, daß sein Stück zu ausgedehnt, zu inhaltslos und mit zu
vielen Wiederholungen versehen sei. Wie lange soll sich diese unsinnige
Komödie noch wiederholen? 'Wann werden die Directoren zu Verstand
und die Schriftsteller zur Charakterfestigkeit kommen? Durch diese ver¬
schiedenen Motive gewinnt denn auch die alte Fabel immer von Neuem
Glauben und Bedeutung: der Deutsche könne einmal keine Lustspiele
schreiben, und für die kleinere, leichte Gattung habe allein der Franzose
das Talent.

Doch kommen wir zu jener Bühnenzerrissenheit zurück, deren wir
zuerst erwähnten, zu jenem Denken und Trachten der Direktionen, auf
ihren Bretern Alle" leisten zu wollen, von der großen Oper zur Posse,
vom Trauerspiel zum Ballet, vom Lustspiel zu -- den Luftspringern,
Taschenspielern und allen möglichen ähnlichen Künsten hinüberzufliegen
und so nie zu Athem zu kommen, unselige Hast, alle Schaustellungen
zusammenzuraffen, die hier und da von sich reden machen, das Geschrei
der Blätter veranlassen, wahrend immer wohl zu bemerken, Paris wohl¬
weislich für jedes Einzelne sein besonderes Theater hat und daher auch,
trotz aller fabrikmäßigen Betriebsamkeit, jedem Tage sein Neues zu die-


Alles Unglück, alle Halbheit unserer Bühnenzerrissenheit liegt in dem
falschen Bestreben, in jeder Gattung und Species, in Oper und Ballet,
in Trauerspiel und Lustspiel Alles und das Höchste, das Brillanteste
leisten zu wollen. Hierdurch wird dem alten, wahren Spruch: non multi»
slZ«l unitum schnurstracks entgegen gehandelt und in keinem Zweige et¬
was Harmonisches, in sich Vollendetes geleistet. Diese Bühnenzerrissen¬
heit hat den theatralischen Weltschmerz erweckt, hat die allgemeine Sehn¬
sucht hervorgerufen.

Was das Schauspiel insbesondere betrifft, so ist dabei eine anschei-
dende Kleinigkeit, die aber sehr wichtig ist, nicht zu übersehen. Man
hat in der letztern Zeit den Schriftstellern hier und da mit Recht vorge¬
worfen, daß sie immer nur große Stücke schreiben wollten, daß sie es
unter ihrer Würde hielten, kleinere Stücke, ein- und zweiactige Lustspiele,
zu schreiben, daß es im Grunde verdienstlicher sei, kleine Stücke gut, als
große schlecht zu schreiben. Ohne mich hier auf die Collision mit den
Ueberfttzungsfabrikanten weiter einzulassen, will ich nur bemerken, daß die
Schuld hier eigentlich weniger an den sich überschätzenden Schriftstellern,
als an der abergläubischen Gewohnheit und dem Schlendrian, an den
maß- und tonangebenden Directoren liegt, die ihr Institut immer noch als
eine Zeittödtungsmaschine, als eine Quarantäne gegen die Langeweile be¬
trachten. Sie fordern nämlich (mit wenigen Ausnahmen) von Stücken,
welche sie im Manuscripc zur Aufführung annehmen sollten, daß sie ei¬
nen ganzen Abend füllen sollen; kleinere, einactige deutsche Stücke wer¬
den in der Regel nicht berücksichtigt. Eine Thorheit, welche dies mo¬
derne französische Repertoire auf jeder Seite, mit jedem kleinen Lustspiel
in der ganzen Traurigkeit darstellt. Und wozu zwingt dies den deutschen
Schriftsteller? Er dehnt seinen Stoss, der ein gutes, kleines Stück ge¬
geben hatte, über die Stoffgrenzen zu fünf Acten aus, um das Publi-
cum zu langweilen und nachher von der Kritik vernünftiger Weise hören
zu müssen, daß sein Stück zu ausgedehnt, zu inhaltslos und mit zu
vielen Wiederholungen versehen sei. Wie lange soll sich diese unsinnige
Komödie noch wiederholen? 'Wann werden die Directoren zu Verstand
und die Schriftsteller zur Charakterfestigkeit kommen? Durch diese ver¬
schiedenen Motive gewinnt denn auch die alte Fabel immer von Neuem
Glauben und Bedeutung: der Deutsche könne einmal keine Lustspiele
schreiben, und für die kleinere, leichte Gattung habe allein der Franzose
das Talent.

Doch kommen wir zu jener Bühnenzerrissenheit zurück, deren wir
zuerst erwähnten, zu jenem Denken und Trachten der Direktionen, auf
ihren Bretern Alle« leisten zu wollen, von der großen Oper zur Posse,
vom Trauerspiel zum Ballet, vom Lustspiel zu — den Luftspringern,
Taschenspielern und allen möglichen ähnlichen Künsten hinüberzufliegen
und so nie zu Athem zu kommen, unselige Hast, alle Schaustellungen
zusammenzuraffen, die hier und da von sich reden machen, das Geschrei
der Blätter veranlassen, wahrend immer wohl zu bemerken, Paris wohl¬
weislich für jedes Einzelne sein besonderes Theater hat und daher auch,
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[0539] Alles Unglück, alle Halbheit unserer Bühnenzerrissenheit liegt in dem falschen Bestreben, in jeder Gattung und Species, in Oper und Ballet, in Trauerspiel und Lustspiel Alles und das Höchste, das Brillanteste leisten zu wollen. Hierdurch wird dem alten, wahren Spruch: non multi» slZ«l unitum schnurstracks entgegen gehandelt und in keinem Zweige et¬ was Harmonisches, in sich Vollendetes geleistet. Diese Bühnenzerrissen¬ heit hat den theatralischen Weltschmerz erweckt, hat die allgemeine Sehn¬ sucht hervorgerufen. Was das Schauspiel insbesondere betrifft, so ist dabei eine anschei- dende Kleinigkeit, die aber sehr wichtig ist, nicht zu übersehen. Man hat in der letztern Zeit den Schriftstellern hier und da mit Recht vorge¬ worfen, daß sie immer nur große Stücke schreiben wollten, daß sie es unter ihrer Würde hielten, kleinere Stücke, ein- und zweiactige Lustspiele, zu schreiben, daß es im Grunde verdienstlicher sei, kleine Stücke gut, als große schlecht zu schreiben. Ohne mich hier auf die Collision mit den Ueberfttzungsfabrikanten weiter einzulassen, will ich nur bemerken, daß die Schuld hier eigentlich weniger an den sich überschätzenden Schriftstellern, als an der abergläubischen Gewohnheit und dem Schlendrian, an den maß- und tonangebenden Directoren liegt, die ihr Institut immer noch als eine Zeittödtungsmaschine, als eine Quarantäne gegen die Langeweile be¬ trachten. Sie fordern nämlich (mit wenigen Ausnahmen) von Stücken, welche sie im Manuscripc zur Aufführung annehmen sollten, daß sie ei¬ nen ganzen Abend füllen sollen; kleinere, einactige deutsche Stücke wer¬ den in der Regel nicht berücksichtigt. Eine Thorheit, welche dies mo¬ derne französische Repertoire auf jeder Seite, mit jedem kleinen Lustspiel in der ganzen Traurigkeit darstellt. Und wozu zwingt dies den deutschen Schriftsteller? Er dehnt seinen Stoss, der ein gutes, kleines Stück ge¬ geben hatte, über die Stoffgrenzen zu fünf Acten aus, um das Publi- cum zu langweilen und nachher von der Kritik vernünftiger Weise hören zu müssen, daß sein Stück zu ausgedehnt, zu inhaltslos und mit zu vielen Wiederholungen versehen sei. Wie lange soll sich diese unsinnige Komödie noch wiederholen? 'Wann werden die Directoren zu Verstand und die Schriftsteller zur Charakterfestigkeit kommen? Durch diese ver¬ schiedenen Motive gewinnt denn auch die alte Fabel immer von Neuem Glauben und Bedeutung: der Deutsche könne einmal keine Lustspiele schreiben, und für die kleinere, leichte Gattung habe allein der Franzose das Talent. Doch kommen wir zu jener Bühnenzerrissenheit zurück, deren wir zuerst erwähnten, zu jenem Denken und Trachten der Direktionen, auf ihren Bretern Alle« leisten zu wollen, von der großen Oper zur Posse, vom Trauerspiel zum Ballet, vom Lustspiel zu — den Luftspringern, Taschenspielern und allen möglichen ähnlichen Künsten hinüberzufliegen und so nie zu Athem zu kommen, unselige Hast, alle Schaustellungen zusammenzuraffen, die hier und da von sich reden machen, das Geschrei der Blätter veranlassen, wahrend immer wohl zu bemerken, Paris wohl¬ weislich für jedes Einzelne sein besonderes Theater hat und daher auch, trotz aller fabrikmäßigen Betriebsamkeit, jedem Tage sein Neues zu die-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/539>, abgerufen am 23.07.2024.