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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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wohl in ästhetischer, als in jeder andern Beziehung. Die große Armee,
welche die Schlachten der Geschichte schlägt, ist weit darüber hinaus¬
gezogen und hütet sich wohl, von allen lyrisch-empfindsamen Seelen,
die den Meßkatalog um eine Nummer reicher machen, irgend wie
Notiz zu nehmen. Das lyrische Element gestaltet sich bei uns in
Deutschland sehr selten als eine Kraft, größtentheils immer als eine
Krankheit.

Die lyrische Kraft unserer Gegenwart bewegt sich zum Theil in
einer Umgestaltung des poetischen Gebietes. Sie pflanzt neue Zeichen
und Fahnen auf. Gehört denn die Lyrik und allgemeiner die Poesie
nur in das Reich des Mondscheines, des säuselnden Waldes, der rau¬
schenden Quelle, der dämmernden Romantik, der matten und ermat¬
tenden Gefühle? Ist der Gegensatz zwischen dem Kampfe des Lebens
und der Geschichte mit der Poesie ein wahrhaft begründeter? Haben
Leben und Poesie nicht einen und denselben Ursprung, nicht ein und
dasselbe großartige Ziel? Weshalb will man sie trennen, weshalb
soll die Poesie nur auf den bloßen Schein des Lebens angewiesen
werden? Kann und soll die Poesie nicht über die Gefühlsmomente
hinausgehen ? Muß sie bet jener alten Ascetik verharren, in welche
sie durch den ganzen Verlauf der christlich-germanischen Welt hinein¬
gebracht worden? Das sind die Fragen, welche unsere Gegenwart,
in Betreff der Lyrik, zu lösen hat, sowohl durch productive Thaten,
als durch kritische Gedanken und welche zum Theil schon kühn und
kräftig gelöset worden sind. Aber unsere lyrischen Kranken hören und
sehen nichts, sie halten die Augen zu vor dem neuen Lichte und fühlen
nichts, als ein inneres Weben und Dämmern.

Die Gedichte der Frau Anna von Fuger-Rechteborn,
welche uns zuerst in die Hand fallen, sind sehr lyrisch-krank. Aber sie
sind die Zöglinge einer Frau und wenn sich das Weib noch nicht
über den engen Kreis subjektiver Gefühlsmomente emporhebt, so darf
man wohl, wo die meisten Männer noch darin stocken bleiben, am al¬
lerwenigsten strenge darüber richten. Weil die Liebe


"von ihrem reichen Zauberjoche
Nur goldne Träume mir verliehn"

sagt die Verfasserin,


"Drum hab ich mir die holde Lieoerblume.
Nun angepflanzt in meiner Brust."

wohl in ästhetischer, als in jeder andern Beziehung. Die große Armee,
welche die Schlachten der Geschichte schlägt, ist weit darüber hinaus¬
gezogen und hütet sich wohl, von allen lyrisch-empfindsamen Seelen,
die den Meßkatalog um eine Nummer reicher machen, irgend wie
Notiz zu nehmen. Das lyrische Element gestaltet sich bei uns in
Deutschland sehr selten als eine Kraft, größtentheils immer als eine
Krankheit.

Die lyrische Kraft unserer Gegenwart bewegt sich zum Theil in
einer Umgestaltung des poetischen Gebietes. Sie pflanzt neue Zeichen
und Fahnen auf. Gehört denn die Lyrik und allgemeiner die Poesie
nur in das Reich des Mondscheines, des säuselnden Waldes, der rau¬
schenden Quelle, der dämmernden Romantik, der matten und ermat¬
tenden Gefühle? Ist der Gegensatz zwischen dem Kampfe des Lebens
und der Geschichte mit der Poesie ein wahrhaft begründeter? Haben
Leben und Poesie nicht einen und denselben Ursprung, nicht ein und
dasselbe großartige Ziel? Weshalb will man sie trennen, weshalb
soll die Poesie nur auf den bloßen Schein des Lebens angewiesen
werden? Kann und soll die Poesie nicht über die Gefühlsmomente
hinausgehen ? Muß sie bet jener alten Ascetik verharren, in welche
sie durch den ganzen Verlauf der christlich-germanischen Welt hinein¬
gebracht worden? Das sind die Fragen, welche unsere Gegenwart,
in Betreff der Lyrik, zu lösen hat, sowohl durch productive Thaten,
als durch kritische Gedanken und welche zum Theil schon kühn und
kräftig gelöset worden sind. Aber unsere lyrischen Kranken hören und
sehen nichts, sie halten die Augen zu vor dem neuen Lichte und fühlen
nichts, als ein inneres Weben und Dämmern.

Die Gedichte der Frau Anna von Fuger-Rechteborn,
welche uns zuerst in die Hand fallen, sind sehr lyrisch-krank. Aber sie
sind die Zöglinge einer Frau und wenn sich das Weib noch nicht
über den engen Kreis subjektiver Gefühlsmomente emporhebt, so darf
man wohl, wo die meisten Männer noch darin stocken bleiben, am al¬
lerwenigsten strenge darüber richten. Weil die Liebe


„von ihrem reichen Zauberjoche
Nur goldne Träume mir verliehn"

sagt die Verfasserin,


„Drum hab ich mir die holde Lieoerblume.
Nun angepflanzt in meiner Brust."

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[0386] wohl in ästhetischer, als in jeder andern Beziehung. Die große Armee, welche die Schlachten der Geschichte schlägt, ist weit darüber hinaus¬ gezogen und hütet sich wohl, von allen lyrisch-empfindsamen Seelen, die den Meßkatalog um eine Nummer reicher machen, irgend wie Notiz zu nehmen. Das lyrische Element gestaltet sich bei uns in Deutschland sehr selten als eine Kraft, größtentheils immer als eine Krankheit. Die lyrische Kraft unserer Gegenwart bewegt sich zum Theil in einer Umgestaltung des poetischen Gebietes. Sie pflanzt neue Zeichen und Fahnen auf. Gehört denn die Lyrik und allgemeiner die Poesie nur in das Reich des Mondscheines, des säuselnden Waldes, der rau¬ schenden Quelle, der dämmernden Romantik, der matten und ermat¬ tenden Gefühle? Ist der Gegensatz zwischen dem Kampfe des Lebens und der Geschichte mit der Poesie ein wahrhaft begründeter? Haben Leben und Poesie nicht einen und denselben Ursprung, nicht ein und dasselbe großartige Ziel? Weshalb will man sie trennen, weshalb soll die Poesie nur auf den bloßen Schein des Lebens angewiesen werden? Kann und soll die Poesie nicht über die Gefühlsmomente hinausgehen ? Muß sie bet jener alten Ascetik verharren, in welche sie durch den ganzen Verlauf der christlich-germanischen Welt hinein¬ gebracht worden? Das sind die Fragen, welche unsere Gegenwart, in Betreff der Lyrik, zu lösen hat, sowohl durch productive Thaten, als durch kritische Gedanken und welche zum Theil schon kühn und kräftig gelöset worden sind. Aber unsere lyrischen Kranken hören und sehen nichts, sie halten die Augen zu vor dem neuen Lichte und fühlen nichts, als ein inneres Weben und Dämmern. Die Gedichte der Frau Anna von Fuger-Rechteborn, welche uns zuerst in die Hand fallen, sind sehr lyrisch-krank. Aber sie sind die Zöglinge einer Frau und wenn sich das Weib noch nicht über den engen Kreis subjektiver Gefühlsmomente emporhebt, so darf man wohl, wo die meisten Männer noch darin stocken bleiben, am al¬ lerwenigsten strenge darüber richten. Weil die Liebe „von ihrem reichen Zauberjoche Nur goldne Träume mir verliehn" sagt die Verfasserin, „Drum hab ich mir die holde Lieoerblume. Nun angepflanzt in meiner Brust."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/386>, abgerufen am 24.11.2024.