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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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men deswegen so zahlreich, weil man sie früher nie so sorgfältig ge¬
zählt hat. Früher verschmachteten sie in Vergessenheit; starben an
Hunger oder Krankheit, ohne daß eine Behörde es der Mühe werth
hielt, von ihrer Existenz oder ihrem Verschwinden Notiz zu nehmen;
man bemerkte sie nur, wenn sie schädlich wurden. Dann erfaßte sie
der Arm des Gesetzes und machte kurzen Prozeß mit ihnen. Jetzt ha¬
ben die Geburth- und Sterbelisten, die Hospitäler, die WolMätig-
keitsinstitute, die Berichte der Jnspectoren, die jährlichen Veröffent¬
lichungen der Ministerien eine strenge Ordnung in dieser Sphäre ge¬
schaffen und in jene finstern Schlupfwinkel, in welche" ehemals das
Elend vegetirte, ein heilsames Licht gebracht. Dazu kommt der Ein¬
fluß der Presse, die durch ihre wahren, wie durch ihre falschen Beur¬
theilungen theils die Thätigkeit der Behörden anregt, controllirt, zurecht¬
weist, theils die Sympathien des Publicums wach erhält. Aus un¬
sern Statistiker auf die Zunahme der Unsittlichkeit schließen, wäre eben
so lächerlich, als wollte man aus unsern Criminaltabellen beweisen,
daß heute verhältnißmäßig mehr gemordet und gestohlen wird, als zur
Zeit Cartouche's und Mambrin's.

Daß wenigstens Ordnung, Gesetz und Überwachung das Leben
des heutigen Armen von allen Seiten umgeben, zeigt sich nirgends so
sehr, als hier in Paris, dessen Wohlthätigkeitsanstalten ein umfassen¬
des, vielgegliedertes System bilden, das den Armen von der Wiege
bis zum Grabe nicht einen Augenblick ohne Beistand läßt. Man kann
dem Armen Schritt vor Schritt folgen: im Findet!) aus tritt er
in'sDasein; von da geht er in die sogenannte Krippe oder "el-celle"
über, von da in die Kleinkinderbewahranstalt; mit sechs Jahren ver¬
läßt er dieselbe, um in die Primärschule einzutreten, und später in
die Schulen für Erwachsene. Wenn er nicht arbeiten kann, wird er
in die Wohlthätigkeitsbüreaus seines Bezirks eingeschrieben, und, wenn
er krank wird, hat er die Wahl unter zwölf öffentlichen und Privat¬
hospitälern. Endlich, wenn der pariser Arme das Ende seiner trauri¬
gen Laufbahn erreicht, so.stehen sieben Hospizien zu seiner Aufnahme
bereit, deren heilsame Lebensordnung oft seine nutzlosen Tage über die
Grenzen hinaus verlängert, welche das Leben des mit allen Bequem¬
lichkeiten umgebenen Reichen selten erreicht.

Uebrigens verlieren die oben angeführten Zahlen bei näherer Be¬
trachtung viel von ihrer Furchtbarkeit. Es ist bewiesen, daß in Pa¬
ris auf drei Geburten ein uneheliches Kind kommt; aber man pars
hieraus keineswegs schließen, daß alle diese Kinder sich im Zustande


men deswegen so zahlreich, weil man sie früher nie so sorgfältig ge¬
zählt hat. Früher verschmachteten sie in Vergessenheit; starben an
Hunger oder Krankheit, ohne daß eine Behörde es der Mühe werth
hielt, von ihrer Existenz oder ihrem Verschwinden Notiz zu nehmen;
man bemerkte sie nur, wenn sie schädlich wurden. Dann erfaßte sie
der Arm des Gesetzes und machte kurzen Prozeß mit ihnen. Jetzt ha¬
ben die Geburth- und Sterbelisten, die Hospitäler, die WolMätig-
keitsinstitute, die Berichte der Jnspectoren, die jährlichen Veröffent¬
lichungen der Ministerien eine strenge Ordnung in dieser Sphäre ge¬
schaffen und in jene finstern Schlupfwinkel, in welche» ehemals das
Elend vegetirte, ein heilsames Licht gebracht. Dazu kommt der Ein¬
fluß der Presse, die durch ihre wahren, wie durch ihre falschen Beur¬
theilungen theils die Thätigkeit der Behörden anregt, controllirt, zurecht¬
weist, theils die Sympathien des Publicums wach erhält. Aus un¬
sern Statistiker auf die Zunahme der Unsittlichkeit schließen, wäre eben
so lächerlich, als wollte man aus unsern Criminaltabellen beweisen,
daß heute verhältnißmäßig mehr gemordet und gestohlen wird, als zur
Zeit Cartouche's und Mambrin's.

Daß wenigstens Ordnung, Gesetz und Überwachung das Leben
des heutigen Armen von allen Seiten umgeben, zeigt sich nirgends so
sehr, als hier in Paris, dessen Wohlthätigkeitsanstalten ein umfassen¬
des, vielgegliedertes System bilden, das den Armen von der Wiege
bis zum Grabe nicht einen Augenblick ohne Beistand läßt. Man kann
dem Armen Schritt vor Schritt folgen: im Findet!) aus tritt er
in'sDasein; von da geht er in die sogenannte Krippe oder „el-celle"
über, von da in die Kleinkinderbewahranstalt; mit sechs Jahren ver¬
läßt er dieselbe, um in die Primärschule einzutreten, und später in
die Schulen für Erwachsene. Wenn er nicht arbeiten kann, wird er
in die Wohlthätigkeitsbüreaus seines Bezirks eingeschrieben, und, wenn
er krank wird, hat er die Wahl unter zwölf öffentlichen und Privat¬
hospitälern. Endlich, wenn der pariser Arme das Ende seiner trauri¬
gen Laufbahn erreicht, so.stehen sieben Hospizien zu seiner Aufnahme
bereit, deren heilsame Lebensordnung oft seine nutzlosen Tage über die
Grenzen hinaus verlängert, welche das Leben des mit allen Bequem¬
lichkeiten umgebenen Reichen selten erreicht.

Uebrigens verlieren die oben angeführten Zahlen bei näherer Be¬
trachtung viel von ihrer Furchtbarkeit. Es ist bewiesen, daß in Pa¬
ris auf drei Geburten ein uneheliches Kind kommt; aber man pars
hieraus keineswegs schließen, daß alle diese Kinder sich im Zustande


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/378>, abgerufen am 24.11.2024.