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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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tus; sie mußten unter ihm sich mit theologischen Studien beschäftigen
und er hatte durch unbeugsame Strenge einmal alle Mitglieder des
Klosters, in dem er wohnte, so sehr aufgereizt, daß diese ihn mit Mes¬
sern und Gabeln aus dem Refectorium (dem Speisesaal) trieben, dar¬
auf aber durch einen eigenhändigen päpstlichen Befehl endlich unter-
würfig und willig gemacht wurden. -- Kehren wir zu Leo zurück.
Gleich nach einer der ersten Messen, welchen dieser Papst beiwohnte,
nahm Micara als ^retlicittoio ^poswlico die Vorsteher der Kirche
selbst zum Thema seiner Rede, und hielt den anwesenden Cardinälen
einen Spiegel vor, indem er sie hinwies auf die einflußreiche Wichtig¬
keit ihrer Stellung, sowie auf manche von ihm erkannte, auf die ge-
sammte katholische Christenheit höchst nachtheilige Vernachlässigung ih¬
rer heiligsten Pflichten. Manche jüngere, dem römischen Adel ange-
hörige Cardinäle waren im Innersten darüber erbittert, daß ein ge¬
meiner*) Bettelmönch ihnen, den Fürsten und Herren der
Welt, Vorwürfe zu machen wagte. Ganz anders aber griff die Rede
in Leo's Herz ein. Dieser sah in dem niedern Mönch einen würdi¬
gen Genossen seiner eignen Gesinnung, und zollte ihm in einer Prt-
vataudienz unmittelbar nach jener Rede den vollkommensten Beifall,
indem er ihm zugleich die Versicherung gab, daß er ihn selbst zum
Cardinal erheben würde""")."

Wenige Tage nach diesem Vorfall begab sich einer der jüngsten
-Cardinäle in Mtcara's Kloster, stürzte in dessen Zelle, und fuhr den
würdigen Pater mit den Worten an:

"Niederer Sclave, der Du nur lebst von unsrer Barmherzigkeit,
und nur predigen darfst, weil wir es Dir erlauben, was wagst Du
es, gegen die Lenker der Weltengeschichte gemeine Redensarten auszu-
stoßen?"

Ganz ruhig entgegnete ihm Micara, anspielend auf jene oben
erwähnte Unterredung mit Leo:

"Wenn Du aus mir nur die Stimme Deines Herrn gehört hät¬
test? wenn ich das Recht hätte, neben Dir zu sitzen? künftiger Col¬
lege, wie würdest Du dann Deine unziemliche Sprache rechtfertigen?"

Der Cardinal, den Sinn dieser Rede, und mit ihr Leo's Geist
ahnend, entfernte sich schweigend, aber empört aus der Zelle.




*) Micara ist aus Frascati gebürtig, wo seine armen Eltern Ackerbau ge¬
trieben haben.
Dies geschah auch ein Jahr später.

tus; sie mußten unter ihm sich mit theologischen Studien beschäftigen
und er hatte durch unbeugsame Strenge einmal alle Mitglieder des
Klosters, in dem er wohnte, so sehr aufgereizt, daß diese ihn mit Mes¬
sern und Gabeln aus dem Refectorium (dem Speisesaal) trieben, dar¬
auf aber durch einen eigenhändigen päpstlichen Befehl endlich unter-
würfig und willig gemacht wurden. — Kehren wir zu Leo zurück.
Gleich nach einer der ersten Messen, welchen dieser Papst beiwohnte,
nahm Micara als ^retlicittoio ^poswlico die Vorsteher der Kirche
selbst zum Thema seiner Rede, und hielt den anwesenden Cardinälen
einen Spiegel vor, indem er sie hinwies auf die einflußreiche Wichtig¬
keit ihrer Stellung, sowie auf manche von ihm erkannte, auf die ge-
sammte katholische Christenheit höchst nachtheilige Vernachlässigung ih¬
rer heiligsten Pflichten. Manche jüngere, dem römischen Adel ange-
hörige Cardinäle waren im Innersten darüber erbittert, daß ein ge¬
meiner*) Bettelmönch ihnen, den Fürsten und Herren der
Welt, Vorwürfe zu machen wagte. Ganz anders aber griff die Rede
in Leo's Herz ein. Dieser sah in dem niedern Mönch einen würdi¬
gen Genossen seiner eignen Gesinnung, und zollte ihm in einer Prt-
vataudienz unmittelbar nach jener Rede den vollkommensten Beifall,
indem er ihm zugleich die Versicherung gab, daß er ihn selbst zum
Cardinal erheben würde""")."

Wenige Tage nach diesem Vorfall begab sich einer der jüngsten
-Cardinäle in Mtcara's Kloster, stürzte in dessen Zelle, und fuhr den
würdigen Pater mit den Worten an:

„Niederer Sclave, der Du nur lebst von unsrer Barmherzigkeit,
und nur predigen darfst, weil wir es Dir erlauben, was wagst Du
es, gegen die Lenker der Weltengeschichte gemeine Redensarten auszu-
stoßen?"

Ganz ruhig entgegnete ihm Micara, anspielend auf jene oben
erwähnte Unterredung mit Leo:

„Wenn Du aus mir nur die Stimme Deines Herrn gehört hät¬
test? wenn ich das Recht hätte, neben Dir zu sitzen? künftiger Col¬
lege, wie würdest Du dann Deine unziemliche Sprache rechtfertigen?"

Der Cardinal, den Sinn dieser Rede, und mit ihr Leo's Geist
ahnend, entfernte sich schweigend, aber empört aus der Zelle.




*) Micara ist aus Frascati gebürtig, wo seine armen Eltern Ackerbau ge¬
trieben haben.
Dies geschah auch ein Jahr später.
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[0348] tus; sie mußten unter ihm sich mit theologischen Studien beschäftigen und er hatte durch unbeugsame Strenge einmal alle Mitglieder des Klosters, in dem er wohnte, so sehr aufgereizt, daß diese ihn mit Mes¬ sern und Gabeln aus dem Refectorium (dem Speisesaal) trieben, dar¬ auf aber durch einen eigenhändigen päpstlichen Befehl endlich unter- würfig und willig gemacht wurden. — Kehren wir zu Leo zurück. Gleich nach einer der ersten Messen, welchen dieser Papst beiwohnte, nahm Micara als ^retlicittoio ^poswlico die Vorsteher der Kirche selbst zum Thema seiner Rede, und hielt den anwesenden Cardinälen einen Spiegel vor, indem er sie hinwies auf die einflußreiche Wichtig¬ keit ihrer Stellung, sowie auf manche von ihm erkannte, auf die ge- sammte katholische Christenheit höchst nachtheilige Vernachlässigung ih¬ rer heiligsten Pflichten. Manche jüngere, dem römischen Adel ange- hörige Cardinäle waren im Innersten darüber erbittert, daß ein ge¬ meiner*) Bettelmönch ihnen, den Fürsten und Herren der Welt, Vorwürfe zu machen wagte. Ganz anders aber griff die Rede in Leo's Herz ein. Dieser sah in dem niedern Mönch einen würdi¬ gen Genossen seiner eignen Gesinnung, und zollte ihm in einer Prt- vataudienz unmittelbar nach jener Rede den vollkommensten Beifall, indem er ihm zugleich die Versicherung gab, daß er ihn selbst zum Cardinal erheben würde""")." Wenige Tage nach diesem Vorfall begab sich einer der jüngsten -Cardinäle in Mtcara's Kloster, stürzte in dessen Zelle, und fuhr den würdigen Pater mit den Worten an: „Niederer Sclave, der Du nur lebst von unsrer Barmherzigkeit, und nur predigen darfst, weil wir es Dir erlauben, was wagst Du es, gegen die Lenker der Weltengeschichte gemeine Redensarten auszu- stoßen?" Ganz ruhig entgegnete ihm Micara, anspielend auf jene oben erwähnte Unterredung mit Leo: „Wenn Du aus mir nur die Stimme Deines Herrn gehört hät¬ test? wenn ich das Recht hätte, neben Dir zu sitzen? künftiger Col¬ lege, wie würdest Du dann Deine unziemliche Sprache rechtfertigen?" Der Cardinal, den Sinn dieser Rede, und mit ihr Leo's Geist ahnend, entfernte sich schweigend, aber empört aus der Zelle. *) Micara ist aus Frascati gebürtig, wo seine armen Eltern Ackerbau ge¬ trieben haben. Dies geschah auch ein Jahr später.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/348>, abgerufen am 24.11.2024.