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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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jenseits Canton Thurgau. Wir weihen den Manen jenes großen
Todten einige Augenblicke der Erinnerung.

Dies ist die rechte Stimmung, in welcher wir einen Besuch bei
einem Manne unternehmen können, den wir in den nachfolgenden Zei¬
len schildern wollen. Wir betreten das Schweizergebiet, und sehen
vor uns ein kleines, freundliches Dorf, Emmis Höfen mit Namen.
Hier wohnt I. G. A. Wirth.

Viele, mögen sie auch noch so aufmerksam die Zeitungen und
Broschüren der letzten zehn Jahre gelesen haben, werden sagen, von
diesem Manne hören wir ja nichts. Der hat keine Kammerreden ge¬
halten, nicht auf Festungen gesessen, keine politischen Gedichte geschrie¬
ben, ist aus Berlin nicht fortgewiesen worden, kurz -- der Mann ist
uns gänzlich unbekannt. Sie mögen aber nur mit der Persönlichkeit
des Mannes selbst bekannt werden, dann werden sie seine Bedeutung
auch ohne vorherige Erzählung seines Lebens und Wirkens begreifen.

Wir sehen einen Mann von mittlerer Größe und gedrungenem
Aörperwuchse vor uns. Seine Haare hängen ihm verwirrt über die
Stirn, seine Kleidung zeugt von Einfachheit, -- von Armuth. Ein
melancholischer Zug spielt, aber fast unbemerkbar, um seinen Mund;
das feste, energische Gepräge seines Gesichtes läßt ihn nicht recht auf¬
kommen. Ein Helles, feuriges Auge, in dem sich seine Seele so klar
spiegelt, wie ein Stein in dem ruhigen Spiegel des Bodensees, ver>
räth uns, besonders beim Sprechen, den Mann der Begeisterung, der
Willenskraft, der Beredsamkeit. Drüber wölbt sich eine hohe, geist¬
volle Stirn, auf der sich aber schon Furchen gebildet haben. Diese
obere Parksee des Gesichtes verräth allein den Mann von geistiger
Bedeutung: sonst sollte man, nach der gedrungenen, kräftigen Natur
und dem festen, energischen Gesichte zu urtheilen, etwa einen schwei¬
zerischen Landmann in ihm erblicken, den die frische Alpenluft und viele
körperliche Anstrengungen zu einem kernhaften Menschen gekräftigt ha¬
ben. Doch darf man sich nach dieser Schilderung keine plumpe Sta¬
tur vorstellen, wie man sie den Schweizern im Allgemeinen, jedoch mit
Unrecht, beimißt) die gedrungene Festigkeit des Körpers ist vielmehr,
-- fast möcht' ich sagen, -- mit Grazie und Zartheit verbunden. Die
ganze Erscheinung des Mannes macht einen höchst wohlthuenden Ein¬
druck; man sieht in ihr die Kraft, nicht nur zum Wollen, sondern
auch zum Handeln. --

Wie bei fast allen Menschen, die nicht in Büchern und Hand¬
schriften leben, sondern mehr auf's Wort, als auf die Schrift, mehr


jenseits Canton Thurgau. Wir weihen den Manen jenes großen
Todten einige Augenblicke der Erinnerung.

Dies ist die rechte Stimmung, in welcher wir einen Besuch bei
einem Manne unternehmen können, den wir in den nachfolgenden Zei¬
len schildern wollen. Wir betreten das Schweizergebiet, und sehen
vor uns ein kleines, freundliches Dorf, Emmis Höfen mit Namen.
Hier wohnt I. G. A. Wirth.

Viele, mögen sie auch noch so aufmerksam die Zeitungen und
Broschüren der letzten zehn Jahre gelesen haben, werden sagen, von
diesem Manne hören wir ja nichts. Der hat keine Kammerreden ge¬
halten, nicht auf Festungen gesessen, keine politischen Gedichte geschrie¬
ben, ist aus Berlin nicht fortgewiesen worden, kurz — der Mann ist
uns gänzlich unbekannt. Sie mögen aber nur mit der Persönlichkeit
des Mannes selbst bekannt werden, dann werden sie seine Bedeutung
auch ohne vorherige Erzählung seines Lebens und Wirkens begreifen.

Wir sehen einen Mann von mittlerer Größe und gedrungenem
Aörperwuchse vor uns. Seine Haare hängen ihm verwirrt über die
Stirn, seine Kleidung zeugt von Einfachheit, — von Armuth. Ein
melancholischer Zug spielt, aber fast unbemerkbar, um seinen Mund;
das feste, energische Gepräge seines Gesichtes läßt ihn nicht recht auf¬
kommen. Ein Helles, feuriges Auge, in dem sich seine Seele so klar
spiegelt, wie ein Stein in dem ruhigen Spiegel des Bodensees, ver>
räth uns, besonders beim Sprechen, den Mann der Begeisterung, der
Willenskraft, der Beredsamkeit. Drüber wölbt sich eine hohe, geist¬
volle Stirn, auf der sich aber schon Furchen gebildet haben. Diese
obere Parksee des Gesichtes verräth allein den Mann von geistiger
Bedeutung: sonst sollte man, nach der gedrungenen, kräftigen Natur
und dem festen, energischen Gesichte zu urtheilen, etwa einen schwei¬
zerischen Landmann in ihm erblicken, den die frische Alpenluft und viele
körperliche Anstrengungen zu einem kernhaften Menschen gekräftigt ha¬
ben. Doch darf man sich nach dieser Schilderung keine plumpe Sta¬
tur vorstellen, wie man sie den Schweizern im Allgemeinen, jedoch mit
Unrecht, beimißt) die gedrungene Festigkeit des Körpers ist vielmehr,
— fast möcht' ich sagen, — mit Grazie und Zartheit verbunden. Die
ganze Erscheinung des Mannes macht einen höchst wohlthuenden Ein¬
druck; man sieht in ihr die Kraft, nicht nur zum Wollen, sondern
auch zum Handeln. —

Wie bei fast allen Menschen, die nicht in Büchern und Hand¬
schriften leben, sondern mehr auf's Wort, als auf die Schrift, mehr


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[0330] jenseits Canton Thurgau. Wir weihen den Manen jenes großen Todten einige Augenblicke der Erinnerung. Dies ist die rechte Stimmung, in welcher wir einen Besuch bei einem Manne unternehmen können, den wir in den nachfolgenden Zei¬ len schildern wollen. Wir betreten das Schweizergebiet, und sehen vor uns ein kleines, freundliches Dorf, Emmis Höfen mit Namen. Hier wohnt I. G. A. Wirth. Viele, mögen sie auch noch so aufmerksam die Zeitungen und Broschüren der letzten zehn Jahre gelesen haben, werden sagen, von diesem Manne hören wir ja nichts. Der hat keine Kammerreden ge¬ halten, nicht auf Festungen gesessen, keine politischen Gedichte geschrie¬ ben, ist aus Berlin nicht fortgewiesen worden, kurz — der Mann ist uns gänzlich unbekannt. Sie mögen aber nur mit der Persönlichkeit des Mannes selbst bekannt werden, dann werden sie seine Bedeutung auch ohne vorherige Erzählung seines Lebens und Wirkens begreifen. Wir sehen einen Mann von mittlerer Größe und gedrungenem Aörperwuchse vor uns. Seine Haare hängen ihm verwirrt über die Stirn, seine Kleidung zeugt von Einfachheit, — von Armuth. Ein melancholischer Zug spielt, aber fast unbemerkbar, um seinen Mund; das feste, energische Gepräge seines Gesichtes läßt ihn nicht recht auf¬ kommen. Ein Helles, feuriges Auge, in dem sich seine Seele so klar spiegelt, wie ein Stein in dem ruhigen Spiegel des Bodensees, ver> räth uns, besonders beim Sprechen, den Mann der Begeisterung, der Willenskraft, der Beredsamkeit. Drüber wölbt sich eine hohe, geist¬ volle Stirn, auf der sich aber schon Furchen gebildet haben. Diese obere Parksee des Gesichtes verräth allein den Mann von geistiger Bedeutung: sonst sollte man, nach der gedrungenen, kräftigen Natur und dem festen, energischen Gesichte zu urtheilen, etwa einen schwei¬ zerischen Landmann in ihm erblicken, den die frische Alpenluft und viele körperliche Anstrengungen zu einem kernhaften Menschen gekräftigt ha¬ ben. Doch darf man sich nach dieser Schilderung keine plumpe Sta¬ tur vorstellen, wie man sie den Schweizern im Allgemeinen, jedoch mit Unrecht, beimißt) die gedrungene Festigkeit des Körpers ist vielmehr, — fast möcht' ich sagen, — mit Grazie und Zartheit verbunden. Die ganze Erscheinung des Mannes macht einen höchst wohlthuenden Ein¬ druck; man sieht in ihr die Kraft, nicht nur zum Wollen, sondern auch zum Handeln. — Wie bei fast allen Menschen, die nicht in Büchern und Hand¬ schriften leben, sondern mehr auf's Wort, als auf die Schrift, mehr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/330>, abgerufen am 24.11.2024.