Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.Auge blind ist, das zweite Auge eine stärkere Sehkraft erhalt, so hat hier Flau wie das Wetter ist es auch im öffentlichen Leben. Die poli¬ Auge blind ist, das zweite Auge eine stärkere Sehkraft erhalt, so hat hier Flau wie das Wetter ist es auch im öffentlichen Leben. Die poli¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0318" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/182741"/> <p xml:id="ID_887" prev="#ID_886"> Auge blind ist, das zweite Auge eine stärkere Sehkraft erhalt, so hat hier<lb/> das Auge, das für Berg und Busch geschlossen bleiben muß, sich für<lb/> schmucke Stuckatur, für zierliches Giebelwerk, schlanke Karyatiden und ge¬<lb/> meißelte Fensterbogen geschärft.</p><lb/> <p xml:id="ID_888" next="#ID_889"> Flau wie das Wetter ist es auch im öffentlichen Leben. Die poli¬<lb/> tischen Kreise kauen immer an dem Mährchen von der beabsichtigten<lb/> (Konstitution. Jetzt heißt es, man habe sich über die Fassung des ersten<lb/> Artikels nicht einigen können. Wozu auch? Die Sache hat ja keine Eile!<lb/> Preußen hat viel Glück gehabt innerhalb eines Jahres. Wie oft es auch<lb/> die öffentliche Meinung zum Zweikampf herausforderte, immer trat ein<lb/> wunderbarer Zufall dazwischen und sing die Hiebe aus, die am erbittert¬<lb/> sten nach ihm zielten; wie oft eS auch Sturm säete, immer kam ein<lb/> Wind und wehte die Wolken nach einer andern Seite zu. Der Wind<lb/> war von jeher ein guter Freund der Berliner! Ein Jahr ist's jetzt, daß<lb/> die Ausweisung der zwei badischen Deputirten, von einem Ende Deutsch¬<lb/> lands bis zum andern, einen Schrei des Unwillens erregte. Und das<lb/> Echo hätte noch lange nachgerollt — wenn nicht der befreundete Wind<lb/> gekommen wäre, der all die Wolken nach einer andern Gegend hin ge¬<lb/> blasen hätte. In Leipzig brachen sie los in jener fürchterlichen Nacht<lb/> vom 12. August. Sachsen wurde der Blitzableiter für Preußen, ein con-<lb/> stitutioneller Staat wurde zur Folie für einen absoluten. Der Clamor<lb/> publicus zog sich gegen jenen zu, die preußischen Gardelieutenants warfen<lb/> sich in die Brust und spielten die Liberalen, die Gensdarmen, den rhei¬<lb/> nischen Beobachter an der Spitze, drehten stolz ihre Schnurrbärte und<lb/> sangen: Ich bin ein Preuße, kennst du meine Farben? — Jetzt kamen<lb/> die Landtagsabschiede und ihr Nein durchlief die Wandelscala der wärm¬<lb/> sten Petitionen und Vorschläge. Die Leipziger Ereignisse hatten die Ge¬<lb/> müther bereits vorbereitet auf eine solche Antwort. Darum folgte auch<lb/> eine allgemeine Stille, als der Orakelspruch gefallen. Jeder verschloß<lb/> seine Gedanken in der Brust; keiner wollte zuerst seine Stimme erheben<lb/> und nur leise zitterte hier und da ein schriller Ton in der Presse. Aber<lb/> allmälig sammelte sich das Bewußtsein und die niedergedrückte öffentliche<lb/> Meinung begann sich Luft zu machen. Da traten die polnischen Ereig¬<lb/> nisse ein und abermals wehte der befreundete Gott der Winde die Debatte<lb/> nach einer andern Richtung. Diesmal war es Oesterreich, über dessen<lb/> Haupt sich das Gewitter entlud; unerwarteter Weise fand Preußen eine<lb/> Folie an den galizischen Zuständen und abermals hatten die Gardelieu¬<lb/> tenants Gelegenheit, sich in die wattirte Brust zu werfen, und abermals<lb/> sangen die Gensdarmen, diesmal sogar unter Anführung der preußischen<lb/> Allgemeinen, das Triumphlied: Ich bin ein Preuße, kennst du u. f. w.<lb/> Möge Preußen, nicht wie jene römische Cäsaren, sich endlich selbst für<lb/> einen Gott erklären. Preußen ist im Unglücke groß geworden, im Glücke<lb/> trat immer sein Hang zur Selbstüberschätzung hervor. Die Loblieder, die<lb/> ihm jetzt für seine Urbarialgesetze vorgesungen werden, drohen ihm den<lb/> Kopf zu verwirren. In seiner Rivalität mit Oesterreich und stets mit<lb/> diesem in Parallele gebracht, erscheint es sich selbst groß und erhaben</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0318]
Auge blind ist, das zweite Auge eine stärkere Sehkraft erhalt, so hat hier
das Auge, das für Berg und Busch geschlossen bleiben muß, sich für
schmucke Stuckatur, für zierliches Giebelwerk, schlanke Karyatiden und ge¬
meißelte Fensterbogen geschärft.
Flau wie das Wetter ist es auch im öffentlichen Leben. Die poli¬
tischen Kreise kauen immer an dem Mährchen von der beabsichtigten
(Konstitution. Jetzt heißt es, man habe sich über die Fassung des ersten
Artikels nicht einigen können. Wozu auch? Die Sache hat ja keine Eile!
Preußen hat viel Glück gehabt innerhalb eines Jahres. Wie oft es auch
die öffentliche Meinung zum Zweikampf herausforderte, immer trat ein
wunderbarer Zufall dazwischen und sing die Hiebe aus, die am erbittert¬
sten nach ihm zielten; wie oft eS auch Sturm säete, immer kam ein
Wind und wehte die Wolken nach einer andern Seite zu. Der Wind
war von jeher ein guter Freund der Berliner! Ein Jahr ist's jetzt, daß
die Ausweisung der zwei badischen Deputirten, von einem Ende Deutsch¬
lands bis zum andern, einen Schrei des Unwillens erregte. Und das
Echo hätte noch lange nachgerollt — wenn nicht der befreundete Wind
gekommen wäre, der all die Wolken nach einer andern Gegend hin ge¬
blasen hätte. In Leipzig brachen sie los in jener fürchterlichen Nacht
vom 12. August. Sachsen wurde der Blitzableiter für Preußen, ein con-
stitutioneller Staat wurde zur Folie für einen absoluten. Der Clamor
publicus zog sich gegen jenen zu, die preußischen Gardelieutenants warfen
sich in die Brust und spielten die Liberalen, die Gensdarmen, den rhei¬
nischen Beobachter an der Spitze, drehten stolz ihre Schnurrbärte und
sangen: Ich bin ein Preuße, kennst du meine Farben? — Jetzt kamen
die Landtagsabschiede und ihr Nein durchlief die Wandelscala der wärm¬
sten Petitionen und Vorschläge. Die Leipziger Ereignisse hatten die Ge¬
müther bereits vorbereitet auf eine solche Antwort. Darum folgte auch
eine allgemeine Stille, als der Orakelspruch gefallen. Jeder verschloß
seine Gedanken in der Brust; keiner wollte zuerst seine Stimme erheben
und nur leise zitterte hier und da ein schriller Ton in der Presse. Aber
allmälig sammelte sich das Bewußtsein und die niedergedrückte öffentliche
Meinung begann sich Luft zu machen. Da traten die polnischen Ereig¬
nisse ein und abermals wehte der befreundete Gott der Winde die Debatte
nach einer andern Richtung. Diesmal war es Oesterreich, über dessen
Haupt sich das Gewitter entlud; unerwarteter Weise fand Preußen eine
Folie an den galizischen Zuständen und abermals hatten die Gardelieu¬
tenants Gelegenheit, sich in die wattirte Brust zu werfen, und abermals
sangen die Gensdarmen, diesmal sogar unter Anführung der preußischen
Allgemeinen, das Triumphlied: Ich bin ein Preuße, kennst du u. f. w.
Möge Preußen, nicht wie jene römische Cäsaren, sich endlich selbst für
einen Gott erklären. Preußen ist im Unglücke groß geworden, im Glücke
trat immer sein Hang zur Selbstüberschätzung hervor. Die Loblieder, die
ihm jetzt für seine Urbarialgesetze vorgesungen werden, drohen ihm den
Kopf zu verwirren. In seiner Rivalität mit Oesterreich und stets mit
diesem in Parallele gebracht, erscheint es sich selbst groß und erhaben
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